Somms Memo
Die Religion der Frauen: Warum das Christentum triumphierte
Jesus Christus erscheint Maria Magdalena. (Gemälde von Alexander Iwanow, 1835.)
Die Fakten: Das Christentum begann vor 2000 Jahren mit Jesus Christus und 30 Anhängern. Heute sind daraus 2,56 Milliarden Christen geworden. Ihre Zahl wächst weiter.
Warum das wichtig ist: Es gibt viele Gründe, wieso das Christentum die grösste Religion aller Zeiten geworden ist. Einer davon: Die Frauen.
Für gläubige Christen ist das womöglich keine Frage. Dass so viele Menschen heute auf Christus vertrauen, hat mit Christus und seiner Botschaft zu tun, die wir in vier Versionen, in den vier Evangelien, nachlesen können.
Doch für alle andern, die sich wundern, warum aus einer jüdischen Sekte mit einem charismatischen, allerdings sehr früh und gewaltsam verstorbenen Anführer die grösste Religionsgemeinschaft dieser Welt herangewachsen ist – für all diese ungläubigen, atheistischen oder in ihrem Glauben verunsicherten Menschen bleibt die folgende Geschichte sehr wohl erklärungsbedürftig. Es ist eine Geschichte des Triumphes:
- Als Jesus von Nazareth im Jahr 30 oder 31 hingerichtet wurde, gab es vielleicht dreissig Christen, die alle in Jerusalem lebten und sich nicht einmal als Christen bezeichneten – 0,0017 Prozent der Bevölkerung des Römischen Reiches, zu dem Jerusalem unfreiwillig gehörte
- Nach rund zweihundert Jahren war ihre Zahl auf 1,2 Millionen angestiegen
- Und im Jahr 350 zählte man 33 Millionen Christen im Imperium Romanum, das entsprach 56 Prozent aller Einwohner. Sie waren in der Mehrheit
Dreissig Jahre später, 380, erklärte Kaiser Theodosius I. den christlichen Glauben zur Staatsreligion.
Wie war es je so weit gekommen?
Immerhin bestanden im Römischen Reich zu jener Zeit zahllose Kulte und Sekten – neben den alten Religionen – wo Menschen Trost fanden, die am Leben – und am Sterben verzweifelten.
Rodney Stark, ein kürzlich verstorbener Religionssoziologe aus den USA, hat vielleicht eines der besten Bücher zum Thema vorgelegt; ich habe aus seinen Erkenntnissen bereits vor einem Jahr berichtet. Unter den diversen Ursachen, die er anführt, sticht eine heraus: Die Rolle der Frauen.
Schon den Zeitgenossen war das aufgefallen:
- Frauen zog das Christentum fast magisch an
- In der frühen Kirche waren sie deshalb stark übervertreten: Historiker gehen davon aus, dass zwei Drittel der Christen Frauen waren
Das ist umso bemerkenswerter, als in der nicht-christlichen Bevölkerung die Dinge gerade umgekehrt lagen. Das römische Reich litt unter einem grotesk unausgewogenen Verhältnis zwischen den Geschlechtern:
- Zwar fehlen genaue Zahlen, aber alle gut informierten Schätzungen stimmen darin überein: es gab sehr viel mehr Männer als Frauen
- In Rom kamen auf 100 Frauen 132 Männer
- In ganz Italien lautete das Verhältnis sogar 100 zu 140
Wenn ich davon gesprochen habe, dass das Römische Reich darunter «litt», dann mit Grund. Denn damit verbunden war eine sehr tiefe Fertilität der Frauen, so dass die Bevölkerung ständig schrumpfte. Die Römer (und ihre zahllosen Untertanen) drohten auszusterben.
Schon Julius Caesar, der römische Diktator, hatte mit staatlichen Interventionen dagegen angekämpft:
- Wer als Vater mehr als drei Kinder zeugte, bekam ein Stück Land
- Cicero, ein einflussreicher Politiker, schlug gar vor, es den Leuten zu verbieten, unverheiratet zu bleiben
- Kurz darauf doppelte Kaiser Augustus nach: Männer mit mehr als drei Kindern wurden politisch begünstigt, während Paare ohne Kinder Bussen zu bezahlen hatten
Es half nichts. Wenn es darum ging, sich fortzupflanzen, machten die Römer nicht mit.
Woran lag es?
An einer ausgesprochen frauenfeindlichen Kultur. Die römischen Männer konnten es nicht mit ihren Frauen: zahlreiche Geschichten sind aus der lateinischen Literatur bekannt, die davon erzählen, wie schwierig doch die Ehefrauen tun, wie lästig es ist, eine Familie zu gründen, und in der Politik gab die Tatsache, dass so viele Männer lieber Single blieben, immer wieder zu reden. Sex? Die Männer zogen es vor, sich mit Prostituierten beiderlei Geschlechts zu vergnügen, und wenn die Ehefrau doch einmal ein Kind gebar, kam es sehr aufs Geschlecht darauf an, ob es überlebte.
- Die römischen Männer wollten Buben. Gab es ein Mädchen, wurde es sogleich getötet oder vor die Tür gelegt, wo es dann von Tieren gefressen wurde. Seneca, ein Philosoph, empfahl Ertränken – ob aus humanitären Gründen, ist offen
- Das alles war vollkommen legal. Als Tacitus, ein Historiker, erfuhr, dass die Juden Kindstötung für eine «Sünde» hielten, schüttelte er nur den Kopf. Wieder so ein «finsterer und abstossender Brauch» der Juden, sagte er
- Ebenso legal und weit verbreitet war die Abtreibung
Da die römische Medizin unterentwickelt war, bedeutete das für die Frauen eine unvorstellbare Leidensgeschichte:
- Zuerst vergiftete der «Arzt» den Fötus mit einem Mittel, das er durch die Scheide einführte. Es war so giftig, dass es oft gleich die Mutter mittötete
- Kam es nicht so weit, zog der Arzt den Fötus mit einem Haken aus dem Mutterleib, dabei solle er den Haken «ins Auge, die Nase oder die Stirn» des Fötus hängen, hiess es in einem medizinischen Lehrbuch. War das Kind zu gross, wurde es noch in der Gebärmutter verschnetzelt
In einer Zeit, da man keine Ahnung von Bakterien hatte, kaum Seife kannte, und auch sonst Hygiene schlicht nicht vorkam, waren die Folgen absehbar: Tod und Verderben. Die Frauen starben. Auch das trug dazu bei, dass es immer weniger Frauen gab.
Vor diesem Hintergrund kann nicht erstaunen, warum so viele Frauen Zuflucht im Glauben an Jesus Christus fanden.
Denn Jesus, einer dieser «finsteren» Juden, lehrte das Gegenteil dessen, was in der römischen Gesellschaft üblich war:
- Sex ausserhalb der Ehe lehnte er strikt ab – für beide Geschlechter
- Stattdessen wurde die Familie aufgewertet: «Seid fruchtbar und mehret euch», hiess es in der jüdischen Bibel, dem Alten Testament, an das auch die Christen glaubten
- Abtreibung und Kindstötung kamen nicht mehr in Frage. Es waren schlimme Sünden
Das musste die Frauen überzeugen – und sie strömten zu Tausenden in die neue Kirche, wo sie oft auch an verantwortungsvoller Stelle tätig wurden. In der frühchristlichen Literatur ist von weiblichen Diakonen die Rede, ebenso starben viele Frauen den Märtyrertod.
Es war eine Religion der Frauen.
Paulus, der grosse Apostel, schrieb im ersten Brief an die Korinther:
«Doch im Herrn ist weder die Frau ohne den Mann noch der Mann ohne die Frau; denn wie die Frau von dem Mann, so ist auch der Mann durch die Frau; aber alles von Gott.» (1 Kor 11:12)
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Dies ist das letzte Memo dieses Jahres. Ich pausiere für drei Wochen und bin ab dem 9. Januar 2023 wieder für Sie da.
Ich wünsche Ihnen frohe Weihnachten und ein gutes neues Jahr. Bleiben Sie dem Nebelspalter gewogen, auf dass Ihnen das Nebelmeer nie mehr die Freude an der Sonne nehme.
Herzlich
Markus Somm
P.S. Rodney Stark, The Rise of Christianity. How the Obscure, Marginal Jesus Movement Became the Dominant Religious Force in the Western World in a Few Centuries, Princeton University Press, Princeton, NJ 1996.