Somms Memo

Die Personenfreizügigkeit der EU findet vor allem in der Schweiz statt

image 11. Juli 2022 um 10:00
Arbeiten in der Schweiz: Für sehr viele EU-Ausländer die erste Adresse.
Arbeiten in der Schweiz: Für sehr viele EU-Ausländer die erste Adresse.
Die Fakten: 11,2 Millionen Bürger der EU (und EFTA) arbeiten in einem anderen EU-Land als ihrer Heimat. 940 000 davon in der Schweiz.

Warum das wichtig ist: Kaum ein Land gibt mehr EU-Ausländern Arbeit als die Schweiz. Das sollte unsere Regierung bei den Verhandlungen mit der EU auch einmal sagen.


Die meisten Erwerbstätigen in der EU, Grossbritannien und in der EFTA (Island, Norwegen, Liechtenstein, Schweiz) arbeiten in ihrem eigenen Land:
  • Rund 255 Millionen bleiben lieber zuhause
  • Bloss 11,2 Millionen ziehen wegen einer Stelle ins EU-Ausland um
  • Das entspricht 4,2 Prozent aller Erwerbstätigen im EU/EFTA-Raum, inklusive Grossbritannien (das inzwischen weder der EU noch der EFTA angehört)
Mit anderen Worten, nur eine kleine Minderheit macht von der Personenfreizügigkeit überhaupt Gebrauch, an welcher der EU so viel liegt, dass sie bisher zu keinerlei Konzessionen bereit war:
  • Als Grossbritannien, wo die Zuwanderung aus der EU zusehends auf Widerstand stiess, darum bat, sie drosseln zu dürfen, lehnte das die EU kategorisch ab – was sich im Nachhinein als tödlich erwiesen hat: Kaum ein Thema half den Brexit-Befürwortern mehr
  • Lieber nahm Brüssel in Kauf, dass die Briten 2016 in einer Volksabstimmung entschieden, die EU zu verlassen, als dass es das Dogma der unbeschränkten Personenfreizügigkeit zur Disposition gestellt hätte – oder eine kluge Ausnahmeregelung gewährt hätte
  • Ähnlich unbeweglich, wenn nicht stur verhält sich die EU-Kommission gegenüber der Schweiz, einem Land, wo die Personenfreizügigkeit genauso einen Dauerbrenner der politischen Auseinandersetzung darstellt. Als 2014 Volk und Stände die Masseneinwanderungsinitiative der SVP angenommen hatten, die eine Begrenzung der Immigration in die Verfassung schrieb, kam die EU der Schweiz nicht ein Jota entgegen

Stattdessen setzte das eidgenössische Parlament die Initiative auf eine Art und Weise um, die ihrer Aufhebung gleichkam. Es kommt selten vor, dass die Schweiz ihre eigene direkte Demokratie ausser Kraft setzt – für die EU tat sie es.
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Dabei zeigen die Zahlen: Wäre die EU-Kommission auch nur etwas pragmatischer und wohlwollender gestimmt, sie fände gute Gründe, der Schweiz bestimmte Ausnahmen zu erlauben – so wie sie es ja im Fall Liechtensteins seit langem tut.
11,2 Millionen EU/EFTA-Bürger arbeiteten im Jahr 2019 im Ausland und gelten als sogenannte «mobile Arbeitskräfte»:
  • Davon hat es 940 000 in die Schweiz verschlagen, das nicht zur EU zählt. Das sind 8 Prozent aller mobilen Erwerbstätigen in der EU
  • In Deutschland sind es 2,8 Millionen, mithin 25 Prozent
  • In Grossbritannien (kein EU-Mitglied) 2,4 Millionen oder 21 Prozent

Wenn man bedenkt, dass Deutschland und Grossbritannien ungleich grösser sind (82 Millionen bzw. 67 Millionen) als die Schweiz (8,6 Millionen), dann ist leicht zu erkennen, dass wir einem sehr viel grösseren Anteil dieser mobilen Arbeitskräfte eine Stelle verschaffen.
Gewiss, sie kommen aus freien Stücken, und unsere Firmen haben sie angestellt, weil sie einen Nutzen darin sehen, gleichwohl trifft zu, dass die Schweiz sehr viele ihrer Arbeitsplätze EU-Bürgern zur Verfügung stellt – und damit den Arbeitsmarkt der EU entlastet, sprich: dort der Arbeitslosigkeit vorbeugt.
Dafür könnte die EU-Kommission auch einmal danke sagen – und wenn es ihr nicht bewusst ist, wäre es an unseren Diplomaten sie jedes Mal daran zu erinnern. Höflich, aber hartnäckig:
Wer ist da Trittbrettfahrer und Rosinenpicker?
Ebenso müsste der Kommission zu denken geben, dass das zweite bevorzugte Ziel für die EU-Auswanderer Grossbritannien darstellt, das ebenfalls nicht der EU angehört.
Kurz, ein Drittel der Leute, die die Personenfreizügigkeit nutzen, nutzen sie, um der EU den Rücken zu kehren – weil sie in Grossbritannien und der Schweiz offensichtlich bessere Jobs finden als zuhause.
Natürlich gibt es noch weitere Gründe – und auch diese könnten unsere Diplomaten dazu verwenden, um unsere Verhandlungsposition zu stärken, sofern man sie nur gut erklärt.
Denn warum ziehen Grossbritannien und die Schweiz so viele Bürger aus der EU geradezu magnetisch an? Abgesehen von den hohen Löhnen (Schweiz) oder interessanten Stellen (Finanzplatz London), die hier locken? Viel mehr als namentlich Italien, das schönste Land der Welt, oder Frankreich, wo doch Gott wohnt?
It’s the language, stupid. Es ist die Sprache, Dummkopf:
  • In Grossbritannien wird mit Englisch die Weltsprache schlechthin gesprochen, die jedermann lernen möchte, sofern er sie nicht kann
  • Und in der Schweiz gibt es vier Sprachen, wovon drei die Sprachen der Nachbarn sind

Mit anderen Worten, für einen Deutschen, eine Italienerin oder einen Franzosen gibt es kaum ein Ausland, das ihm vertrauter ist als die Schweiz, wo er in seiner eigenen Sprache sich bewerben kann, ja oft, diese noch besser beherrscht als die Einheimischen – oder das immerhin meinen darf.
Welcher Franzose dagegen würde schon in Polen im Spital arbeiten wollen? Und welcher Deutscher wandte sich nach Schweden, um dort auf dem Strassenverkehrsamt tätig zu werden? Formulare ausfüllen auf Schwedisch?
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Wer möchte in Schweden schon arbeiten? Pippi Langstrumpf und ihr Assistent Herr Nilsson.
Kurz, wer möchte polnisch, schwedisch oder auch estnisch, portugiesisch oder ungarisch lernen, wenn er in erster Linie eine neue Stelle sucht?
Gewiss, Boris Zürcher, Leiter der Direktion für Arbeit beim SECO, hat ja recht, wenn er den «offenen Arbeitsmarkt» der Schweiz lobt, als er letzte Woche diese Zahlen vorstellte.
Aber diese Offenheit müsste auch die EU anerkennen. Stattdessen tut sie so, als wären allein wir die Profiteure ihres Binnenmarktes, während die EU geradezu aus karitativen Gründen mit uns die bilateralen Abkommen abgeschlossen hat. Aus Liebe zur Schweiz? Mumpitz.
Oder wie es Charles de Gaulle, der grosse Franzose, festgehalten hat:
«Staaten haben keine Freunde, nur Interessen.»

Ich wünsche Ihnen einen perfekten Wochenbeginn Markus Somm

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