Die Blasmusik als neuer Feind der Volksgesundheit
So langsam kommen sie, die kritischen Fragen, wenn das Bundesamt für Gesundheit zur Medienkonferenz ruft. Ein Bündner Journalist machte sich am Dienstag zum Sprecher der «Orchester- und Blasmusikszene». Dort steige der Unmut. Der Grund: Inzwischen darf wieder geprobt werden, aber jedem Musiker muss eine Fläche von mindestens 25 Quadratmeter zur Verfügung stehen. Jedem Trompeter sein eigenes Wohnzimmer sozusagen.
Nicht mal eine Turnhalle reicht
Die Rechnung ist schnell gemacht. Wenn ein einzelner Musikant diesen Abstand zum Nachbarn haben muss, braucht es bereits bei einer mittleren Besetzung von 20 Leuten insgesamt 500 Quadratmeter. In einer durchschnittlichen Gemeinde würde da nicht einmal das Ausweichen auf die Turnhalle der Schule helfen. Viele Blasmusiken haben aber um einiges mehr Musikanten vorzuweisen. Und der Dirigent müsste bei diesem Dimensionen seine Anweisungen schreiend vortragen, was vermutlich auch nicht im Sinn des BAG ist.
Die vorgeschriebene Distanz liesse sich nur mit technischen Massnahmen wie Plexiglaswänden verringern. Wer weiss, was diese kosten und wie viele davon eine Dorfmusik anschaffen müsste – ohne zu wissen, wie lange das nötig sein wird –, der ahnt, dass das in den meisten Fällen keine Option ist.
«Grosse Mengen Aerosole»
Patrick Mathys, Leiter der Sektion Krisenbewältigung beim BAG, kam die Aufgabe zu, diese Abstandsvorgabe zu erklären. Im Brustton der Überzeugung erklärte er: Bei Blasinstrumenten würden Aerosole produziert, und das in grossen Mengen, die sich zudem länger in der Luft aufhalten und sich entsprechend verbreiten können.
So weit, so gefährlich. Nur: Es stimmt nicht. Das zeigen zahlreiche Untersuchungen. Darauf angesprochen, befand Mathys, es gebe aber eben auch andere Studien. Und beim BAG hört man im Zweifelsfall lieber auf diejenigen, die Angst machen.
Messungen zeigen: Keine Gefahr
Dabei müsste sich der Bund keineswegs auf dubiose Arbeiten aus unbekannter Quelle verlassen. Es gibt ganz praktische Erkenntnisse vor der eigenen Haustür.
Das Sinfonieorchester Basel, das Tonhalle-Orchester Zürich und das Schauspielhaus Basel liessen Untersuchungen zum Thema «Aerosole und Tröpfchen bei künstlerischen Tätigkeiten» durchführen. Der Arbeitshygieniker Thomas Eiche führte dafur Messungen bei allen Holz- und Blechblasinstrumenten durch, die bei einem Sinfonieorchester vorkommen.
Laut dem Schweizer Blasmusik-Dirigentenverband, der das Resultat publiziert hat, wandte Eicher eine Methode an, die sonst in der Arbeitshygiene für die Messung von Feinstaub und Aerosolen verwendet wird. Das eingesetzte Messgerät, das «Grimm Aerosol-Spektrometer», reagiert ausgesprochen empfindlich und gilt als zuverlässig.
Das Resultat: Wird nicht gerade laut herumgeschrien, ergaben sich «Messwerte im sehr tiefen Bereich von rund einem Nanoliter pro Kubikmeter.» Das würde heissen, dass die auch sonst übliche Abstandsregelung vollauf ausreichen würde. Oder anders ausgedrückt:
Blasmusik hat wenig mit Blasen zu tun
Ein bisschen Physik stützt diese Erkenntnis. Auch wenn es «Blasmusik» heisst, entsteht der Ton nicht durchs Blasen, mit dem Luft ins Instrument gestossen wird, sondern durch die Schwingungen der Luft, die mit der Lippe am Mundstück erzeugt werden. Allfällige Tröpfchen bleiben als Kondenswasser im Instrument zurück.
Beim Bundesamt für Gesundheit ist man aber offenbar der festen Überzeugung, durch den Schalltrichter einer Trompete würden unablässig Aerosole nach vorne in die Luft gepumpt. Dabei entweicht dort nur eines: Der Ton. Vielleicht rächt es sich jetzt, dass im Bundesrat zwar eine Pianistin, aber offenbar kein aktiver Blasmusikant sitzt. Und auch kein Physiker.
Das Instrument gefährdet nicht, es schützt
Auf welche Studien sich das BAG bei seiner These «Blasinstrument gleich Ausstoss von Aerosolen» bezieht, ist nicht bekannt. Es ist aber ein Leichtes, gewichtige Gegenstudien zu finden. Matthias Echternach, Professor an der Ludwig-Maximilians-Universität in München, hat das Thema «Sicherheitsabstand bei Blasinstrumenten» untersucht. Seine Arbeit zeigt: Tröpfchen, die in das Instrument geblasen werden, sind keine Gefahr – denn sie bleiben dort.
Was den Trichter in Form einer Gaswolke doch noch verliess, war gemäss der Untersuchung ziemlich kraftlos und schaffte es nicht einmal 1,5 Meter weit nach vorne in den Raum – geschweige denn auf die Seite. Die Musikanten könnten also sogar ziemlich eng an eng sitzen, ohne dass Gefahr droht.
Stattdessen sind die Dorfvereine nun auf der Suche nach riesigen leerstehenden Industriehallen, nur, um proben zu dürfen.