Somms Memo
Der Bundesrat lässt Alain Berset draussen vor der Tür warten und redet ohne Berset über Berset. Wie lange kann das noch gutgehen?
Alain Berset als Chef auf dem offiziellen Bundesratsfoto von 2023. Vom Chef ist mittlerweile nicht mehr viel zu spüren.
Die Fakten: Bundespräsident Alain Berset trat an der gestrigen Sitzung der Regierung in den Ausstand. Seine Kollegen diskutierten ohne ihn über ihn. Das kommt selten vor.
Warum das wichtig ist: Steht Berset vor dem Rücktritt? Selten wurde ein Bundespräsident von seinen Kollegen derart gedemütigt und getadelt.
Wenn ein Pressesprecher beginnt sich zu wiederholen und immer wieder darauf verweist, was er schon schriftlich festgehalten habe, dabei das Gesicht verziehend wie ein schlecht gelaunter Käse, dann wissen wir:
- Der Bundesrat ist in Aufruhr
- Und Berset in Not
André Simonazzi, einst Mitglied der SP, also der Partei von Alain Berset, und wohl immer noch ein Linker, vorher für Bundesrat Moritz Leuenberger (SP) tätig und seit 2009 Bundesratssprecher, hatte keine leichte Aufgabe.
Er wirkte etwa so souverän wie Odysseus zwischen Skylla und Charybdis, wie ein Mensch zwischen Stuhl und Bank, wie ein Katholik im Fegefeuer, wobei unklar war, wo er sich denn lieber aufhielte – im Himmel oder in der Hölle?
Alain Berset und Bundesratssprecher André Simonazzi an der Medienkonferenz des Bundesrates am Mittwoch, 25. Januar 2023.
Die Medienkonferenz des Bundesrats, die gestern stattfand, und von der ich spreche, war historisch, ein Sittengemälde einer Epoche, die zu Ende geht:
- In der Mitte der Bundespräsident
- Daneben der Sprecher der Regierung, der über den Bundespräsidenten sprach und ihm hin und wieder auch das Wort abschnitt
Selten habe ich Berset, das Alphatier, so Omega erlebt.
Glich er nicht einem Lobster nach verlorenem Kampf? Darauf komme ich, weil der kanadische Psychologe Jordan Peterson in seinem Bestseller «12 Rules for Life» beschreibt, wie sich bei Lobstern die Hackordnung auswirkt: Wenn der eine gewinnt und in der sozialen Hierarchie aufsteigt, ist das auch mit einem Einschuss von Serotonin verbunden, dem Glückshormon, während beim anderen, dem Verlierer und Absteiger, das Gegenteil geschieht. Bersets Serotonin – das meinte man zu spüren – war am Austrocknen. Die Serotonin-Versorgung war zusammengebrochen.
Wäre er nicht auf einem Stuhl gesessen, er hätte es vielleicht vorgezogen, sich unter einen Stein auf dem Meeresgrund zurückzuziehen.
Auf zwei Punkte kam es an:
1. Berset trat in den Ausstand – ob aus freien Stücken oder auf Druck seiner Kollegen, blieb offen. Kaum war das entschieden, verliess der Bundespräsident das Zimmer, und Vizepräsidentin Viola Amherd (Mitte) leitete die Sitzung. Irgendwo draussen vor der Tür versauerte Berset – wie ein Schüler, über dessen definitive Promotion die Lehrerkonferenz zu befinden hatte. Laut Simonazzi unterhielten sich die sechs übrigen Bundesräte nun für eine geraume Zeit ohne Berset über Berset.
Wie oft ist das in der Schweizergeschichte schon vorgekommen? Mir ist kein Beispiel bekannt, aber Benjamin Schindler, Professor für öffentliches Recht an der Hochschule St. Gallen HSG, ein Kenner der Ausstandsregeln, geht davon aus, dass dies schon mehrfach geschehen ist. Allerdings ist es schwer zu bestimmen, da die Sitzungsprotokolle der Regierung für 30 Jahre geheim bleiben. Kurz, wir wissen es weitgehend nicht.
Was jedoch ausser Zweifel steht: Es war eine Demütigung für den selbstsicheren, wenn nicht selbstgefälligen Freiburger – zumal sie auch öffentlich bekannt gemacht wurde – was, wie Schindlers Bemerkungen nahelegen, nicht allzu häufig getan wird.
Kann Berset sich davon erholen? Sicher. Will er sich davon erholen? Unsicher.
2. In der Sache hielt der Bundesrat fest: Indiskretionen werden nicht geduldet, sondern verurteilt, weil sie die «Arbeit und Glaubwürdigkeit» des Bundesrats untergraben. Offenbar hatte man Berset einer Art Verhör unterworfen, liess ihn aber – noch einmal – springen, um es in der Sprache der Lehrerkonferenz zu sagen:
«Gestützt auf die Angaben des Bundespräsidenten, der versichert hat, von solchen Indiskretionen keine Kenntnis gehabt zu haben, wird der Bundesrat die Geschäfte auf der Grundlage des wiederhergestellten Vertrauens weiterführen», sagte Simonazzi.
Ein grosses Wort, ein gefährlicher Satz, dessen Bedeutung nicht hoch genug eingeschätzt werden kann. Sollte die GPK-Arbeitsgruppe auch nur auf einen einzigen Beweis stossen, wonach Berset von den mutmasslichen Amtsverletzungen seines Kommunikationschefs Peter Lauener gewusst hatte: Es wäre um Berset geschehen.
Wie geht es weiter? «Prognosen sind immer schwierig», wie der dänische Physiker Niels Bohr einmal feststellte, «besonders wenn sie die Zukunft betreffen.»
Ich weiss es nicht. Was aber ausgemacht scheint: Ob Berset nun zurücktritt oder bleibt – politisch ist er erledigt.
Nie mehr wird er jenen Einfluss in der Regierung ausüben, wie er sich das gewohnt war, nie mehr werden ihm die Kollegen wirklich vertrauen und nie mehr dürfte seine eigene Partei ihn so lieben, wie sie ihn zu lieben pflegte, Alain, den coolen Bundesrat.
Es reicht! sagt sich selbst manch ein Sozialdemokrat. Man ist fertig mit ihm. Alain, ganz allein. Draussen vor der Tür.
«Draussen vor der Tür», Stück von Wolfgang Borchert, in einer Aufführung des Schauspiels Wuppertal, 2020.
Als der deutsche Schriftsteller Wolfgang Borchert 1946 oder 1947 sein Stück über einen Kriegsheimkehrer mit diesem Titel überschrieb, schien er nicht so recht an den Erfolg zu glauben, zumal er auch einen Untertitel setzte:
- «Ein Stück, das kein Theater spielen und kein Publikum sehen will»
- Natürlich irrte er sich gewaltig. Das Stück fand ein grosses Publikum.
Über mangelnde Aufmerksamkeit muss sich auch Alain Berset keine Sorgen machen.
Ich wünsche Ihnen einen erfolgreichen Tag
Markus Somm