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Der Bundesrat auf Schulreise: Neues von der Wandersocken-Demokratie
Der Bundesrat des Jahres 2022 vor dem Rheinfall.
Die Fakten: Der Bundesrat auf Schulreise: Gestern fuhr er nach Schaffhausen, heute besucht er das Tessin.
Warum das wichtig ist: Es gibt auf der Welt wohl keine einzige Regierung, die sich auch als Wandertruppe versteht, im Böötli fährt und mit Bürgern zum Apéro anstösst. Neues von der Wandersocken-Demokratie.
Jedes Jahr, kurz vor seinen Ferien, veranstaltet der Bundesrat sein sogenanntes Schulreisli – das typische Diminutiv muss sein, denn nichts an unserer Regierung ist schweizerischer als dieses Ritual
- amerikanische Präsidenten halten im Januar ihre State-of-the-Union-Rede, ein Spektakel, das Hollywood nicht besser beherrscht – es wird weltweit übertragen
- die Queen feiert mit ihren Untertanen jedes Jahr den Geburtstag – weltweit bewundert
- die Deutschen erinnern sich jeweils am 3. Oktober diverser Kriege, der Teilung, Wiedervereinigung und der übrigen Tragödien – das ZDF sendet Ausschnitte
Und die sieben Schweizer Bundesräte ziehen eine Schwimmweste an, befahren wahlweise einen See, einen Fluss oder wagen sich an den Rheinfall heran – wie dieses Jahr, da zuerst eine Reise in den Kanton Schaffhausen auf dem Programm stand, und heute der Besuch des Tessins.
Glanz und Elend der Wandersocken-Demokratie.
Was 1291 auf dem Rütli auf einer touristisch durchaus ansprechenden Wiese mit Bergsicht am See begann, setzt sich bis in die Gegenwart fort, wenn die schweizerische Regierung sich einmal im Jahr als Kollektiv der Bevölkerung und auch der Weltöffentlichkeit präsentiert – auch wenn diese selten davon Notiz nimmt.
- Es gäbe ja auch andere Möglichkeiten als Regierung, würdevoll und in corpore aufzutreten
- Doch in der Schweiz zieht es der Bundesrat vor, sich als oberste Hoteldirektion zu empfehlen
Und alle halten sich daran. Als ein Journalist des Onlinemediums Nau.ch Bundesrat Alain Berset nach seinen Erinnerungen an den Rheinfall befragt, entgegnet dieser:
«Ich war noch nie auf der Plattform. Es ist wirklich eindrücklich, diese Kraft der Natur, extrem schön», um schliesslich anzufügen: «und es ist auch ein Tourismusziel, das sehr bekannt ist in der Schweiz.»
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Natürlich steckt viel mehr dahinter als die Freude am so schönen Land, das sich auch touristisch so prächtig verwerten lässt – seit mehr als zweihundert Jahren.
Im Grunde verrät die Schulreise alles, was uns Schweizern wichtig ist, wenn wir uns schon von irgendjemanden regieren lassen müssen:
- Wer uns regiert, ist einer von uns. Kein Bundesrat ist ein höheres Wesen, kein Bundesrat wüsste nicht, wie man mit dem «Sparschäler Rex» Härdöpfel traktiert
- Wir lieben keine Chefs. Wenn es denn einen geben muss, dann lieber grad sieben, die sich dauernd zanken, bekämpfen und hintergehen – also gegenseitig kontrollieren. Im Bundesratszimmer wird jeder Diktator zum Buchhalter Nötzli, dessen Rechnung nicht aufgeht
Dabei scheuen wir uns nicht vor staatsbürgerlicher Schizophrenie.
Zwar beklagen wir immer wieder, wie schlecht doch die Stimmung im Bundesrat sei, wir wehklagen und schütteln ostentativ den Kopf, dabei wissen alle, dass wir nichts lieber sehen. Eine zu einige Regierung ist eine gefährliche Regierung – aus Sicht der Bürger.
Um diese etwas anstössige Schizophrenie zu lindern oder uns darüber hinwegzutäuschen, gönnen wir unseren Bundesräten jedes Jahr eine Schulreise, wo wir dann – etwas scheinheilig – viel Harmonie im Gremium erwarten. Und die Bundesräte machen auch da mit.
Schulreise 1970. Bundesrat Hans-Peter Tschudi (SP, BS) mit Sprungbein.
Wie immer, wenn die Schweiz eine Institution schafft, spielt der Zufall Regie – und keine Regierung, kein Beschluss, kein Mastermind. Erst hinterher erkennen wir, wie meisterhaft der Bauplan war, wie perfekt die Institution zu unseren politischen Vorlieben und Bedürfnissen passt.
Das am besten organisierte Land der Welt ist auch die am besten organisierte Anarchie.
Das zeigt sich in der Geschichte des Schulreisli. Sie wurde gar wissenschaftlich untersucht. (Michael Brupbacher, Der Bundesrat auf der «Schulreise». Ein geschichtswissenschaftlicher Blick auf den alljährlichen Ausflug der schweizerischen Landesregierung und dessen Bezug zur politischen Kultur der Schweiz, Liz. Freiburg i. Ue. 2006)
- 1950 wurde die erste solche Reise organisiert, wobei nur fünf Bundesräte mitkamen. Man fuhr nach Graubünden, um ein umstrittenes Kraftwerk-Projekt zu begutachten – und bei der skeptischen Bevölkerung dafür zu werben
- Es folgten in unregelmässigen Abständen weitere Reisen, in der Regel wurden Anlagen besichtigt, die der Staat bezahlt hatte. Kraftwerke, Tunnels, Brücken. So viel Zweck musste sein, – ohne guten Grund auf Kosten der Steuerzahler im Land herumzureisen, stand sich der Bundesrat noch nicht zu
- Ab 1961 setzte sich das Ritual fest, so Brupbacher, und auch dessen typischen Elemente bildeten sich heraus: Man besucht (unter anderem) den Kanton des Bundespräsidenten, man wandert oder schifft sich ein, es gibt irgendwann einen Apéro mit den Bürgern und die Reise dauert zwei Tage. Dabei stehen touristische Ziele im Vordergrund
Regierung des Velos. Schulreise des Bundesrates 2016.
Es ist eine Postkarten-Schweiz, die ein Postkarten-Bundesrat durchstreift, um seinen Postkarten-Bürgern zu versichern,
- dass er die gleichen roten Wandersocken schätzt
- und er sich Mühe gibt, in der Zwangs-WG, in die ihn der Bürger gesperrt hat, pünktlich den Abwasch zu machen – sofern er an der Reihe ist
Das erstere nennt man egalitäre Demokratie, das letztere Konkordanz.
Wie geht es dem Bundesrat? Wer mag wen? Wer tuschelt da dem anderen Böses über den Dritten zu?
Wenn die Journalisten sich dann jedes Jahr anlässlich dieser Schulreise über die seelische Verfassung der Landesregierung Gedanken machen, so gehört das inzwischen ebenso zum Ritual. So gesehen ist auch dieses Memo Teil der Postkarten-Industrie.
Zu Anfang war das dem Bundesrat übrigens noch zu dumm. Und die Medien wurden eher als Zumutung empfunden. Man drohte mit der Polizei:
«Im Hinblick auf die Reporterphotographen bitte ich zu überlegen, wie man verhindern kann, dass sie uns stören und zu sehr lästigfallen», schrieb 1966 ein Vizekanzler, der die Schulreise zu planen hatte:
«Da wir über eine motorisierte Patrouille der Kantonspolizei unter Adj. Hofmann verfügen, sollte es nicht zu schwer sein, Ordnung zu halten.»
Vor Verhaftungen, so hören wir, schreckte man immerhin zurück.
Ich wünsche Ihnen ein erholsames Wochenende
Markus Somm