Neutralität

Den Standpunkt wieder finden

image 4. Februar 2023 um 04:00
Auf der Suche der Schweizer Neutralität. (Bild: Keystone)
Auf der Suche der Schweizer Neutralität. (Bild: Keystone)
Die politische Schweiz sucht ihren Standpunkt zur Neutralität. Knapp ein Jahr nach dem Einmarsch russischer Truppen in die Ukraine wollen Politiker aus der SP, den Grünliberalen und der FDP eingemottete Panzer ins Ausland schicken, damit andere Panzer in die Ukraine geliefert werden können. Sie bezwecken damit das Ende einer glaubwürdigen Neutralitätspolitik – oder nehmen dies wenigstens in Kauf. Ein nicht geringer Teil dieser Politiker will damit die Neutralität loswerden, weil sie einem Beitritt der Schweiz zur Europäischen Union entgegensteht.
Andere Parlmentarier – zumeist aus der SVP – wollen die Neutralität so eng in der Bundesverfassung festschreiben, dass die erfolgreiche Neutralitätspolitik der letzten beiden Jahrhunderte gar nicht mehr möglich wäre. Ein nicht geringer Teil dieser Politiker fordert dies aufgrund der Unkenntnis darüber, wie die Schweiz ihre Neutralität tatsächlich gelebt hat.

Falsche Vorschläge

Beide Gruppen liegen mit ihren Vorschlägen daneben. Sei es das Mitmachen in einem militärischen oder politischen Block, sei es die Einschränkung der aussenpolitischen Möglichkeiten durch einen Verfassungsartikel: Beide vorgeschlagenen Wege führen zu einem Verlust an Unabhängigkeit, deren Wahrung gemäss Bundesverfassung das oberste Ziel der Aussenpolitik darstellt. Die Schweiz würde tatsächlich zum Objekt. Der Neutralitätsdebatte ist der Schweizer Standpunkt abhanden gekommen.
Um ihn wiederzufinden, genügt ein Blick in die Geschichte. Jede kriegerische Auseinandersetzung in Europa stellte einen Stresstest für unsere Neutralität dar. Ganz besonders dann, wenn unsere Nachbarn gegeneinander Krieg führten, wie im Ersten Weltkrieg. Aus dem Krieg zwischen Deutschland und Frankreich wurde rasch eine Zerreissprobe für die Schweiz.

image
Carl Spitteler (1854-1924). (Bild: Keystone)

Im Dezember 1914 hielt der Schriftsteller und spätere Literaturnobelpreisträger Carl Spitteler in Zürich eine aufsehenerregende Rede. Unter dem Titel «Unser Schweizer Standpunkt» erläuterte er, worum es bei der Neutralität geht: «Vor allem müssen wir uns klar machen, was wir wollen. Wollen wir oder wollen wir nicht ein schweizerischer Staat bleiben, der dem Auslande gegenüber eine politische Einheit darstellt?»
Wenn man diese Frage mit Ja beantworte, dann müssten «die Landesgrenzen auch für die politischen Gefühle Marklinien bedeuten.» Spitteler meinte damit, dass sich der Neutrale nicht von seiner persönlichen Zuneigung zu einer fremden Macht leiten lassen dürfe – damals am Beginn des Ersten Weltkriegs waren damit Frankreich oder Deutschland gemeint. Das gilt auch heute, wo der Krieg zwar nicht weit weg, aber seine Bedeutung für die Loyalitäten innerhalb der Schweiz viel geringer ist.

«Distanz halten»

«Ohne Zweifel wäre es nun für uns Neutrale das einzig Richtige, nach allen Seiten hin die nämliche Distanz zu halten» fährt Spitteler fort. «Das ist ja auch die Meinung jedes Schweizers. Aber das ist leichter gesagt als getan. Unwillkürlich rücken wir nach einer Richtung näher zu dem Nachbarn, nach anderer Richtung weiter von ihm weg, als unsere Neutralität es erlaubt.» Spitteler warnte davor, seine politischen Überzeugungen den persönlichen Freundschaftsbeziehungen «nachzuwerfen». Es gehe nicht an, «aus individuellen Beweggründen einer fremden Fahne, dem Symbol einer fremden Politik, mit offenen Armen jubelnd entgegenzufliegen.» Auch dies gilt heute genau so.
Aber was tun? Carl Spitteler sagte 1914: «Die richtige Haltung zu bewahren, ist nicht so mühsam, wie sich’s anhört, wenn mans logisch auseinanderlegt.»

Was nicht der Neutralität angelastet werden darf

Die jetzige Debatte hat sich an der Weitergabe von Waffen und Munition entzündet, die vor Jahrzehnten an befreundete Staaten geliefert wurden. Diese Kanonen oder Geschosse stammen aus privater Produktion und unterliegen dem Kriegsmaterialgesetz. Dass ihre Weitergabe eine Wiederausfuhrgenehmigung der Schweiz braucht, hat nichts mit der Neutralität zu tun, sondern mit dem Gutmenschentum von Politikern, die Waffen grundsätzlich ablehnen. Solche Wiederausfuhrverbote kennen zahlreiche westliche Staaten wie etwa Deutschland, die mit der Neutralität nichts am Hut haben.
Seit der letzten Verschärfung des Gesetzes, mit Hilfe von Politikern, die nun der Ukraine mit Waffen oder Munition helfen wollen, darf die Schweizer Rüstungsindustrie eigentlich nur noch Waffen liefern, wenn ausgeschlossen ist, dass diese je benutzt werden. Dass jetzt niemand mehr solche nutzlosen Waffen kaufen will, ist verständlich. Das Problem ist lösbar, wenn sich die bürgerliche Mehrheit auf ein liberales Kriegsmaterialgesetz besinnt und Lieferungen von einfachen Rüstungsgütern in befreundete Demokratien von Einschränkungen befreit. Jüngste Entscheide im Bundeshaus gehen in diese Richtung. Wichtig ist dabei, dass eine Weitergabe keinen Beschluss des Bundesrates benötigt – denn genau mit einem hoheitlichen Akt würde das Geschäft neutralitätspolitisch relevant.

Der pragmatische Weg

Damit wären wir bei der Frage, wie sich der neutrale Staat zu verhalten hat. Dazu gibt es das Neutralitätsrecht im Kriegsfall. Es besteht aus sehr wenig Völkerrecht und sehr viel Gewohnheitsrecht, das in der Vergangenheit für die völkerrechtlich einmalige Neutralität der Schweiz nicht überraschend hauptsächlich durch die Schweiz selbst interpretiert und weiterentwickelt wurde – und auch weiterhin interpretiert werden kann, so lange diese Interpretation international mehrheitlich akzeptiert wird.

Das Ziel ist nicht die Neutralität selbst, sondern die grösstmögliche Unabhängigkeit des neutralen Kleinstaates Schweiz.


«Se hace camino al andar», sagt der Spanier. «Der Weg ergibt sich beim Gehen.» So ist es auch mit der Neutralität. Das Ziel dieses Weges des Neutralen ist nicht die Neutralität selbst, sondern Frieden und grösstmögliche Unabhängigkeit des Kleinstaates . Aber wie der Weg im konkreten Fall gegangen wird, das erschliesst sich beim Gehen. Das war in der Vergangenheit so, als die Schweiz beispielsweise im Zweiten Weltkrieg einen neutralitätspolitischen Balanceakt hinlegte und dabei das Neutralitätsrecht mindestens ritzte. Oder es war so im Kalten Krieg, als unser Land bei den Wirtschaftssanktionen des Westens gegen die Sowjetunion mitmachte, allerdings nur mit einer mündlichen Abmachung.
Die Schweiz kann ihren neutralen Standpunkt weiterentwickeln. Dazu muss der Standpunkt aber verstanden werden. Der Bundesrat hätte sich vor einem Jahr zwar zum Grundsatz der Wirtschaftssanktionen bekennen sollen. Diese aber nicht zum vorne herein übernehmen dürfen. Sowohl die Unabhängigkeit wie die Neutralität wären besser gewahrt worden, wenn man sich die Prüfung der einzelnen Massnahmen vorbehalten hätte. Und die Lieferung von Panzern an einen befreundeten, aber nicht kriegführenden Staat zum Zwecke der Wafenlieferungen in einen Krieg, ist mit einer glaubwürdigen Neutralitätspolitik nicht zu vereinbaren.

Neutralität ist weit verbreitet

Aber ist die Neutralität noch «zeitgemäss»? Abgesehen davon, dass «zeitgemäss» weder eine ethische noch eine ordnungspolitisch sinnvolle Kategorie darstellt, darf festgestellt werden, dass die Neutralität auch im Ausland so populär ist, wie noch nie seit dem Ende der Weltkriege. In den allermeisten Konflikten, vom Falklandkrieg über die beiden Irakkriege, die Konflikte auf dem Balkan oder in Syrien bis zum russischen Angriff auf die Ukraine: Die meisten Länder stellen sich weder auf die eine, noch die andere Seite. Sie nennen das zwar nicht Neutralität, aber sie sind es, weil sie sich aus dem Konflikt heraushalten. Das gilt auch für die Wirtschaftssanktionen gegen Russland, die von den wenigsten Ländern ergriffen wurden. Selbst in Europa dürfte die Schweiz zu den wenigen Ländern zählen, welche die Sanktionen der EU gründlich umsetzen.
Und was ist mit der nötigen militärischen Zusammenarbeit angesichts der vielfältigen Bedrohungen? Auch dabei ergibt sich der Weg beim pragmatischen Gehen. Das Mitmachen beim NATO-Programm von «Partnership for peace» beispielsweise stellte noch nie ein neutralitätspolitisches Glaubwürdigkeitsproblem dar. Auch, weil die Schweiz ihre Teilnahme «beim Gehen» entwickelte und beispielsweise bei Überfluggenehmigungen frühzeitig und erfolgreich auf ihre Neutralität pochte.

Schweiz muss Beitrag leisten

Bleibt noch ein letzter, besonders von Militärs und Diplomaten erhobener Einwand: Der Neutrale profitiert sicherheitspolitisch vom Schutz, den andere erstellen, betreiben und vor allem finanzieren. Das gilt insbesondere für Gefahren aus der Luft wie Drohnen oder Raketen und Bedrohungen über Netzwerke wie Cyberangriffe, Internetspionage für wirtschaftliche oder militärische Zwecke oder Manipulation durch Propaganda, die Stimmungen und Meinungen beeinflusst. Der Einwand ist berechtigt. Er würde aber zu Ende gedacht bedeuten, dass wir der NATO beitreten müssten. Das hätte gegenüber einem EU-Beitritt den Vorteil, dass die Sicherheitsleistungen tatsächlich erbracht und die Teilnahme keine (weitergehende) politische Eingliederung bedeuten würde. Dass die EU auf absehbare Zeit die NATO als Garantin von Sicherheit in Europa ablöst, ist illusorisch. Genau deshalb wollen selbst die EU-Mitglieder Finnland und Schweden der NATO beitreten. Die Alternative zum Beitritt wäre, dass die Schweiz einen Beitrag zur Sicherheitsarchitektur leistet: durch eine glaubwürdige Armee, durch gemeinsame Aus- und Weiterbildung, durch die Beschaffung von Rüstungsgütern in den USA und Grossbritannien, die im Kriegsfall interoperabel sind, vielleicht sogar durch finanzielle Unterstützung.

Es ist der pragmatische Umgang mit der Neutralität und nicht ihre strikte Auslegung, welche die Schweiz zweihundert Jahre lang vor Krieg bewahrt haben.


Es gibt keine Neutralität von Fall zu Fall. Aber eine behutsame Weiterentwicklung der Schweizer Neutralität ist möglich. Dies entspricht dem hiesigen politischen Pragmatismus. Es ist diese Haltung und nicht eine strikte Neutralität, welche dieses Land zweihundert Jahre lang vor Krieg bewahrt haben. Es gibt keinen Grund, bei der jetzigen Bewährungsprobe diesen Pragmatismus über Bord zu werfen – weder durch einen Verzicht auf die Neutralität, noch durch einen Verfassungsartikel über die Neutralität. Der Weg ergibt sich beim Gehen. Der Rest ist Demut.
Oder wie es Carl Spitteler 1914 formulierte: «Nun wohl: eine Ausnahmegunst des Schicksals hat uns gestattet, bei dem fürchterlichen Trauerspiel, das sich gegenwärtig in Europa abwickelt, im Zuschauerraum zu sitzen. Auf der Szene herrscht die Trauer, hinter der Szene der Mord. Wohin Sie mit dem Herzen horchen, sei es nach links, sei es nach rechts, hören Sie den Jammer schluchzen, und die jammernden Schluchzer tönen in allen Nationen gleich, da gibt es keinen Unterschied der Sprache. Wohlan, füllen wir angesichts dieser Unsumme von internationalem Leid unsere Herzen mit schweigender Ergriffenheit und unsere Seelen mit Andacht, und vor allem nehmen wir den Hut ab. Dann stehen wir auf dem richtigen neutralen, dem Schweizer Standpunkt.»

#WEITERE THEMEN

image
Inmitten der neuen Balkankrise

Kosovo-Präsident macht SP-Wahlkampf

26.9.2023

#MEHR VON DIESEM AUTOR

image
Bern einfach

Prämien-Hammer, Guy Parmelin, Chat-Kontrolle, Grüner Finanzplatz, Läderach

26.9.2023