Somms Memo

Datenleaker verhaftet: 21 Jahre alt, ein Kindskopf, mit Zugang zum Pentagon. Hat Amerika den Verstand verloren?

image 14. April 2023 um 10:00
Verhaftung von Jack Teixeira in seinem Heim in North Dighton, gestern Donnerstag.
Verhaftung von Jack Teixeira in seinem Heim in North Dighton, gestern Donnerstag.
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Die Fakten: Das FBI hat einen Fliegersoldaten der amerikanischen Air National Guard verhaftet. Man wirft ihm vor, streng geheime Dokumente im Internet verbreitet zu haben. Warum das wichtig ist: Offenbar hat das US-Militär seine Leute nicht mehr im Griff. Wie kann ein 21-Jähriger an so viel Geheimes kommen? Jack Teixeira heisst der Mann, der die grösste Militärmacht der Welt an der Nase herumgeführt hat.
  • Kein geschmeidiger, kaltblütiger Spion wie Klaus Fuchs, der im Zweiten Weltkrieg die Atombombe an die Sowjets verraten hat
  • Kein eleganter, hochgebildeter Agent wie Kim Philby, der jahrelang den britischen Geheimdienst zu einem Informationsbazar der Kommunisten gemacht hatte

Sondern ein 21-jähriger, offensichtlich unreifer junger Mann, der in seiner Online-Gruppe damit aufzuschneiden pflegte, dass er streng geheime Dokumente des US-Militärs digital verbreitete. Dafür wurde er von seinen ebenfalls pubertären Freunden bewundert:
  • «He was the man, the myth. And he was the legend. Everyone respected this guy» – er war ein Mythos, eine Legende, alle respektierten ihn, sagte Vahki, einer seiner Kollegen, der New York Times. Mit diesem Kunstnamen bezeichnet er sich im Internet. Vahki ist 17 Jahre alt
  • Auf einem Foto, das Teixeira online gestellt hat, sieht man ihn in Uniform, ein junger, patenter Mann, der stolz für sein Land einzustehen scheint

Aufgewachsen in North Dighton, Massachusetts, einem Kaff von 8000 Leuten, gab er nie Anlass für Beschwerden oder Anerkennung, eine stinknormale Familie, nichts Bemerkenswertes, so erzählen die Nachbarn, die nun plötzlich feststellen, dass sie neben einem der grössten Verräter aller Zeiten gelebt haben
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Grösster Verräter – das ist er ohne Frage, gemessen an den zahllosen Dokumenten, die er mir nichts dir nichts der Welt übergeben hat, als handelte es sich um lustige Memes (dafür war er auch bekannt):
  • hoch geheime, oft nicht allzu optimistische Einschätzungen der amerikanischen Geheimdienste, was den Krieg in der Ukraine betrifft
  • oder interne, vertrauliche Gespräche der südkoreanischen Regierung, die die Amerikaner abgehört haben, es ging um mögliche Waffenlieferungen an Russland
  • Mutmassungen der USA, wonach der israelische Geheimdienst Mossad die eigene Regierung bekämpft hat, indem er heimlich die Demonstrationen gegen die Justizreform unterstützt haben soll (was dieser jetzt bestreitet)

Und so weiter. Hochverrat ohne Frage, sollte sich alles bewahrheiten und Teixeira überführt werden – und doch bleibt man ratlos zurück: Wenn es sich auch um einen grossen Verrat handelte, so war das dem grossen Verräter anscheinend nicht bewusst. Erst, als Teixeira realisierte, dass die Dokumente über die Gruppe hinaus geteilt worden waren – zuerst von Russen, Ukrainern, dann von der ganzen Welt, erst dann merkte er, was er angerichtet hatte:
  • «Jetzt flippte er aus», erzählt Vahki, «Das ist nichts wie ‹oopsie-daisy›, sagte er, wie etwa ‹dumm gelaufen›, dafür werde ich bestraft. Das ist Lebenslänglich-im-Gefängnis-Stoff.»
  • Ein Kindskopf wurde über Nacht erwachsen

Und das müsste den Amerikanern am meisten zu denken geben. Wie kann es sein, dass ein 21-jähriger Soldat – und Kindskopf dazu – an die bestgehüteten Geheimnisse der USA herankommt?
  • In der Schweiz, so erfahre ich von einem ehemaligen Generalstabsoffizier, war es früher undenkbar, dass ein Offizier unter 30 Jahren auch nur vertrauliche Dokumente einsehen konnte. Wie es heute ist, wollen wir lieber nicht herausfinden

«Thug Shaker Central» – zu deutsch etwa: Schurken-Schüttler-Zentrale, so nannte sich die Gruppe, die sonst über Videogames plauderte und geschmacklose Memes lachte – bis sie den Krieg der Russen gegen die Ukraine noch lässig fand
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Das macht die Sache so lächerlich, wäre sie nicht so ernst zugleich. Menschen können sterben. Wenn man aber Teixeira schon vor Gericht stellt (zu Recht), dann müsste man geradeso jene Leute zur Rechenschaft ziehen, die ihm diesen Zugang verschafft haben, die ihn, einen kleinen Fliegersoldaten, so falsch eingeschätzt haben:
  • Im Land der tausend Assessments und Security Clearances fehlt es offensichtlich an Common Sense. Man ist nicht einmal mehr in der Lage, einen jungen Mann wie Jack Teixeira zu beurteilen
  • Statt sich dauernd mit Diversity zu befassen, mit Inclusion und was des politisch-korrekten Quarks mehr ist, hätten sich das Militär und die Geheimdienste besser an ihr Kerngeschäft gehalten, das zum Beispiel auf der Erkenntnis beruht: Der Feind hört mit. Deshalb müssen wir unsere Geheimnisse gut bewahren

Gewiss, solange wir nicht mehr wissen über Jack Teixeira, ist es schwer, das Ausmass der Unfähigkeit oder Naivität im Pentagon abzuschätzen. Ebenso ist Teixeira vorderhand als ein Einzelfall (unter vielen Einzelfällen) anzusehen. Dennoch schleicht sich ein Verdacht ein: Was, wenn Teixeira eben doch mehr bedeutete als einen Einzelfall? Man fühlt sich an manche Deformationen des Westens erinnert:
  • Jugendkult
  • «Thug Shaker Central» statt Loyalität zum eigenen Land
  • Technokratie statt Common Sense

Was den Westen jahrhundertelang überlegen gemacht hat, ist eine einzigartige Mischung aus Freiheit und Selbstverantwortung. Wenn unsere junge Generation damit nichts mehr anfangen kann, dann untergräbt das mehr als die nationale Sicherheit der USA. Grundsätzliches steht auf dem Spiel – oder wie es der britische Kenner John le Carré ausgedrückt hat: «In den kommenden Jahrzehnten wird die Spionagewelt weiterhin die kollektive Couch sein, auf der das Unterbewusstsein jeder Nation sich bekennt». Ich wünsche Ihnen ein fantastisches Wochenende Markus Somm

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