Somms Memo

Das Sechseläuten. Ein Fest des Kapitalismus – wenn auch wider Willen. Oder wie die Zünfte Zürich reich gemacht haben.

image 17. April 2023 um 10:00
Zürcher Zünfter am Zürcher Sechseläuten.
Zürcher Zünfter am Zürcher Sechseläuten.
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Die Fakten: 462 Jahre lang beherrschten die Zünfte die Stadt Zürich. Von ihrer Macht ist nichts geblieben – ausser dem Sechseläuten, einem Fest, das daran erinnert. Warum das wichtig ist: Zürich war eine Zunftstadt. Kein Fürst regierte hier, kein Patrizier, sondern Handwerker und Kaufleute. Nichts hat die Stadt mehr geprägt. 1555 kamen in Zürich 147 protestantische Flüchtlinge aus Locarno an, Väter, Mütter, kleine Kinder. Sie hatten eine beschwerliche, mehrere Wochen dauernde Reise über die Alpen hinter sich,
  • vertrieben aus ihrer Heimat, weil sie aus Sicht der katholisch beherrschten Tagsatzung dem falschen Glauben anhingen,
  • eingeladen von Heinrich Bullinger, dem Vorsteher der reformierten Zürcher Kirche. Vor gut zwanzig Jahren hatte er die Nachfolge von Huldrych Zwingli, dem grossen Reformator der Stadt, angetreten; informell verfügte in Zürich keiner über mehr Einfluss als Bullinger. Was er sagte, was er wünschte, das galt

Zwar hatten auch die übrigen reformierten Städteorte der Alten Eidgenossenschaft – Bern, Basel und Schaffhausen – das schwere Schicksal der Tessiner Glaubensbrüder beklagt und bejammert, aber am Ende war doch niemand bereit gewesen, sie aufzunehmen.
  • Wusste man denn, wie lange sie blieben?
  • Wie sollte man sie auch nur versorgen, wer bezahlte ihren Lebensunterhalt? Keine triviale Frage für Protestanten, die das Geld genau zu zählen pflegten

Wäre der kluge und gute Christ Bullinger nicht gewesen, so hätten es wohl auch die Zürcher beim Bejammern bewenden lassen. So aber kam es anders. Sehr viel anders, als sich selbst Bullinger das in seinen kühnsten Träumen hätte vorstellen können:
  • Die 147 Tessiner lösten in Zürich eine Revolution aus, die kapitalistische Revolution
  • Sie brachten aus Italien (bis vor kurzem hatte Locarno noch zum Herzogtum Mailand gehört) das Wissen mit, wie man reich wird, ohne andern den Kopf abzuschlagen (worin sich die Eidgenossen seinerzeit besser auskannten)
  • Italien war damals, zu Anfang des 16. Jahrhunderts, das mit Abstand wohlhabendste und modernste Land Europas. Eine Art Silicon Valley der Renaissance. Wer die Zukunft erleben wollte, fuhr nach Italien

Im Vergleich dazu wirkte Zürich wie eine trostlose Provinz – wenn auch eine mächtige. Mit den Orten Bern und Schwyz gab es in der Eidgenossenschaft den Ton an. Allerdings war die Stadt zu jenem Zeitpunkt, 1555, verarmt – wenngleich aus freien Stücken, genauer: aus theologischen Gründen. Denn Zwingli, der politische und religiöse Revolutionär, hatte den Zürchern vor wenigen Jahren den Solddienst untersagt – eine Tätigkeit, die zuvor den wirtschaftlichen Leitsektor, die Wachstumsbranche der Stadt dargestellt hatte:
  • Die Zürcher (wie die übrigen Eidgenossen auch), und zwar Elite wie Volk, waren reich, nein, sehr reich geworden – dank dem Export von Söldnern, militärischen Experten in Sachen Mord und Totschlag
  • Zu jener Zeit fürchtete man in Europa keine Krieger mehr als die Eidgenossen, diese Taliban der Alpen. Niemand galt als so brutal und effizient zugleich, für niemanden zahlten die Könige und Päpste mehr

Mit einer einzigen Predigt hatte Zwingli dieses blutige, wenn auch hochrentable Geschäft vernichtet. Wenn er aber gemeint hatte, dass der liebe Gott den vielen nun arbeitslosen Zürchern schon ein neues Auskommen verschaffen würde, dann täuschte er sich. Elend breitete sich aus, sowohl in der Stadt als auch auf dem Land. Die Behörden – immer auf der Hut vor unzufriedenen Bauern und Bürgern – machten sich Sorgen. Sie wurden nervös. Und ausgerechnet unter solchen Umständen sollte man noch Dutzende von Tessiner Familien unterbringen – nur weil Bulliger sich das in den Kopf gesetzt hatte? Ein Theologe, der, so schien es, wie Zwingli, von wirtschaftlichen Zusammenhängen so viel verstand wie ein Zürcher Bäcker vom Evangelium?
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Zu jener Zeit zählte Zürich rund 5000 Einwohner. Politisch bestimmten die Zünfte seit langem, was hier geschah und was nicht, nachdem sie 1336 in einer anderen, einer politischen Revolution die Macht in der Stadt übernommen hatten. Sie gaben sich alles andere als begeistert.
  • Wer hatte auf Tessiner Fachkräfte gewartet? Niemand
  • Stattdessen verboten die Zünfte den Einwanderern jede Betätigung in einem zünftigen Handwerk, was faktisch hiess: in jedem Handwerk, da so gut wie keine wirtschaftliche Tätigkeit nicht von ihnen reguliert worden war

Was die lästige Konkurrenz der Locarner auf immer ausschalten sollte, bewirkte allerdings das Gegenteil. Gezwungen, sich nach anderen Erwerbsquellen umzusehen, wenn sie nicht verhungern wollten, verlegten sich die Locarner
  • zuerst auf das Import-Export-Geschäft mit Italien – das ihnen selbstredend viel vertrauter war als den Zürchern. Denn im Gegensatz zu diesen verfügten sie über einen bedeutenden komparativen Vorteil: Sie sprachen Italienisch
  • Innert kurzer Zeit machten die Locarner Zürich so zu einem Zentrum des Italien-Handels nördlich der Alpen. Aus dem Aufenthaltsort wirtschaftlicher Hinterwäldler war ein Powerhouse geworden. Die noch vor kurzem verelendete Stadt nahm es mit einer Mischung aus Genugtuung und Neid zur Kenntnis
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KORREKTUR: Die Zunft Wollishofen wurde nicht im Jahr 1990 sondern bereits im Jahr 1900 gegründet.
Warum aber sollten die Locarner nur Waren kaufen und verkaufen? Warum nicht selber in Zürich die Waren fertigen, zumal sie ja auch die Produktionsmethoden der Italiener und deren Geschäftsgeheimnisse bestens kannten?
  • Die Locarner führten das sogenannte Verlagssystem in Zürich ein. Eine frühkapitalistische Arbeitsorganisation, wie sie sich in Italien vor allem in der Textilindustrie verbreitet hatte. Man produzierte mehr Stoff, billigeren Stoff und besseren Stoff
  • Insbesondere brachten die Locarner die Baumwolle– und Seidenherstellung an die Limmat, wo man früher mehr über blutverspritzte Kettenhemden als feines Tuch Bescheid gewusst hatte
  • Im Laufe weniger Jahre verwandelten sie Zürich im späten 16. Jahrhundert zu einer kapitalistischen Hochburg in Europa

Und aus den unbeliebten Händlern, die einst mausarm aus dem Tessin an den Zürichsee geflüchtet waren, weil sie ihrem «falschen Glauben» nicht hatten abschwören wollen, wurden nicht weniger unbeliebte, aber umso wohlhabendere Unternehmer. Wenn es in Zürich je erstaunliche Karrieren zu beobachten gab, dann diese: Manche Locarner Familien wurden so reich und berühmt, dass man sie zuerst natürlich in eine Zunft aufnahm, dann sogar ins Regiment, wie jene Herrschaft der wenigen Familien hiess, die in den «Kleinen Rat» der Stadt aufsteigen durften.
  • Sie hiessen zum Beispiel von Muralt (nach dem Vorort in Locarno)
  • Oder von Orelli. Deren Stammvater war noch als Schumacher nach Zürich gekommen, wo ihm die Zunft sein Handwerk verwehrt hatte. Ein Nachkomme besass später den Orell Füssli Verlag und gab die NZZ heraus

Es war der Olymp am Uetliberg. Viel mehr konnte man in Zürich nicht erreichen. Und wie so oft in der Wirtschaftsgeschichte war dieser Aufstieg nicht vorgesehen gewesen. Ohne Zünfte – das ist die historische Pointe – wäre es wohl nie dazu gekommen. Ironisch, weil die Zünfte doch alles getan hatten, um genau das zu verhindern. Wenn sie diesen Locarnern zuerst auch das Leben schwergemacht hatten, so waren sie gleichzeitig dafür verantwortlich, dass deren Aufstieg überhaupt möglich geworden war:
  • Weil Zürich sich vor Jahrhunderten als eine Zunftstadt konstituiert hatte, war es auch eine Republik. Zwar hatten im Vergleich zu einer modernen Demokratie nur wenige etwas zu sagen, aber das waren allemal mehr als in einer Monarchie, der damals vorherrschenden Staatsform in Europa. In Zürich herrschte politischer Wettbewerb – das eröffnete jedem Aussenseiter Chancen. In Zürich gab es zwar noch vereinzelte adlige Familien, ihnen kamen aber keinerlei Vorrechte mehr zu
  • Soziale Mobilität kam deshalb häufiger vor, schon im Mittelalter, noch ausgeprägter in der frühen Neuzeit – nicht nur, wenn es sich um Locarner handelte. Aus Bäckern wurden in Zürich Generäle, aus Schneidern Bankiers
  • Wenn man Zünfte auch sicher nicht als Champions der Wirtschaftsfreiheit bezeichnen kann, so waren es eben doch Organisationen von Leuten, die in der privaten Wirtschaft tätig waren. Handwerker, Händler, Kaufleute, Unternehmer. Infolgedessen war das alte Zürich nicht bloss republikanisch geprägt, sondern eben auch ausgesprochen merkantil. Handel und Geschäft, Geld und Renditen galten nie als Schimpfwörter wie etwa in einer patrizisch regierten Stadt wie Bern. Hier hatten die Bernburger eine feine, aber autoritäre und immer wirtschaftsfeindliche Oligarchie durchgesetzt. Sie fühlten sich als Patrizier, eine Art bürgerlichem Adel

Wie sehr dieses politisch-kulturelle Umfeld den Zürchern half, sich im 16. Jahrhundert neu zu erfinden, belegt die Tatsache, dass es nicht lange dauerte, bis auch die Einheimischen das Vorbild der Locarner nachahmten. Besonders die Elite der Stadt zeigte sich höchst anpassungsfähig.
  • Sie waren sich nicht zu schade, das zu jener Zeit viel prestigereichere Kriegshandwerk mit der Tätigkeit eines Unternehmers im Frühkapitalismus zu vertauschen
  • Schon Anfang des 17. Jahrhunderts galten die Gebrüder David und Heinrich Werdmüller in Zürich als die reichsten Schweizer Millionäre aller Zeiten, zwei Seidenunternehmer, die den Seidenhandel in ganz Europa kontrollierten
  • Wie der Name sagt: Die Werdmüller waren vor wenigen Generationen noch gewöhnliche Müller gewesen

Wenn Sie also heute an diesem leider verregneten Sechseläuten zum Beispiel die Zunft zum Weggen vorbeiziehen sehen – denken Sie an die Werdmüller, die einst in dieser Zunft angefangen hatten (später gehörten sie auch anderen Zünften an) und feiern Sie den Zürcher Kapitalismus – der ohne Zünfte kaum je so prächtig an der Limmat erblüht wäre. Fachkräftemangel gab es übrigens auch damals schon. 1587 ersuchten die Gebrüder Werdmüller deshalb den Stadtrat um die Erlaubnis, zwei italienische Seidenexperten anstellen zu dürfen: «Wir verpflichten uns, diese Personen auf unsere eigenen Kosten herzuschaffen und hier zu halten. Und wenn wir solche Personen mit oder ohne Familie finden (solche ohne Familie wären uns am liebsten, weil dann die Kosten am geringsten wären), versprechen wir Euch, Eurer Weisheit, dass wir weder sie noch ihre Kinder je dem Almosen, oder sonst jemandem zur Last fallen lassen werden». Und sie schlossen mit einer ausgesuchten Höflichkeit, wie es dem heutigen rot-grünen Stadtrat vielleicht auch gefallen würde: «Wir empfehlen uns hierbei in Eurer Weisheit gnädigen Schutz und Schirm dienstlich, als Eurer Weisheit untertänige Bürger». Ich wünsche Ihnen ein schönes Sechseläuten Markus Somm

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