Notstand in der Pflege

Das nächste Staatsversagen

image 28. Januar 2023 um 04:00
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Die Notfalleinrichtungen der Spitäler sind voll. Die Bettenabteilungen zeitweise ebenso. Es fehlen Pflegerinnen und Pfleger an allen Ecken und Enden. Rund 15’000 Stellen in der Pflege sind offen. Diese Zahl dürfte sich gemäss Schätzungen in wenigen Jahren verdoppeln. Die Gewerkschaften verlangen bereits die Schliessung von Abteilungen, sprich den Abbau von Versorgung.
Doch es scheint, als habe Bundesrat Alain Berset mit seinen Skandalen und Affären derzeit anderes zu tun, als sich mit Weitblick um das Gesundheitswesen zu kümmern. Diesen Eindruck hinterlassen die von ihm beantragten Beschlüsse des Bundesrates vom vergangenen Mittwoch über die Umsetzung der Pflegeinitiative.

Vorschläge mit Schlagseite

Die Landesregierung will ein neues Gesetz entwerfen, das die Arbeitsbedingungen im Detail regelt, zum Beispiel, wie lange die Dienstpläne im voraus bekannt sein müssen. Hält sich ein Spital oder Heim nicht daran, müsste es Zuschläge zahlen. Hinzu kommt, was nur die Gewerkschaft der Pflege freut: Eine Verhandlungspflicht der (meist staatlichen) Arbeitgeber für Verbesserung der Gesamtarbeitsverträge. Bereits letztes Jahr hat der Bundesrat eine Ausbildungsoffensive beschlossen. Dafür wird der Bund während acht Jahren eine Milliarde Franken bereitstellen.
Die Umsetzung der 2021 angenommenen Pflegeinitiative wäre die Chance gewesen, eine saubere Analyse vorzunehmen und Massnahmen zu ergreifen. Alain Berset macht lieber interventionistische Detailregulierung mit ideologischer Schlagseite.

Die Ursachen liegen tiefer

Die Gründe für den Pflegenotstand sind demographischer und gesellschaftlicher Natur. Die Bevölkerung altert. Die geburtenstarken Babyboomer, geboren 1945 bis 1970, kommen langsam in die medizinisch und pflegerisch aufwändigen Jahre. Die Lage wird sich bis mindestens 2050 noch deutlich verschärfen. Das bedeutet nicht nur einen laufend höheren Bedarf in der Pflege, sondern auch mehr Pensionierungen von Pflegepersonal. Es tönt zynisch, aber es ist so: Wir müssen froh sein um jeden Pensionär, der im Alter nach Thailand auswandert, um sich dort betreuen zu lassen.

Die Akademisierung hat nicht zu mehr Pflegekräften geführt, sondern zu mehr Pflegebürokraten.


Pflege braucht es rund um die Uhr. Heime und Spitäler arbeiten im Schichtbetrieb. Das ist nicht attraktiv, aber auch nicht zu ändern. Junge Pflegerinnen und Pfleger macht dies nichts aus, später, vor allem wenn sie eine Familie gründen, haben sie darauf keine Lust mehr. Die Kinderbetreuung ist schwierig bis unmöglich. Die Akademisierung der Pflegeberufe hat nicht zu mehr Nachwuchs in der Pflege geführt, sondern das Alter der Absolventen erhöht, weshalb sie weniger lange arbeiten, bis sie aufhören und nie zurück kommen. Dafür gibt es mehr Pflegebürokraten, die nicht mehr im Beruf, sondern in den Wasserköpfen der Spitalverwaltungen arbeiten – und damit den Schichtbetrieb los sind.
Der Druck auf die Notfallstationen steigt, weil es relativ zur Bevölkerung immer weniger Hausärzte gibt. Auch hier fehlt der Nachwuchs, weil junge Ärzte diese Arbeit, oft ebenfalls mit Überstunden, nicht mehr machen wollen. Viele Zugewanderte kennen das hiesige Hausarztsystem gar nicht und gehen selbst mit Bagatellen direkt ins Spital. Sie misstrauen sogar den Generalisten, weil sie in ihrer Heimat gescheiterte Spezialärzte sind. Und dann gibt es die Anspruchshaltung vieler Versicherten: Sie wollen sofort im Spital behandelt werden, statt am nächsten Tag den Hausarzt aufzusuchen.

Noch mehr Bürokratie

Die demographischen und gesellschaftlichen Probleme mit Vorschriften über die Vorlaufzeit von Dienstplänen regeln zu wollen, ist eine ziemlich lächerliche Anmassung der Verwaltung. Die jetzt vorgeschlagenen Regeln lösen die eigentlichen Probleme nicht. Sie führen in den Spitälern zu noch mehr Bürokratie und noch weniger Zeit für die Patienten. Mit der teuren Ausbildungsoffensive (die dann in acht Jahren um eine weitere Milliarde Franken verlängert werden dürfte) macht Alain Berset Symbolpolitik nach dem Prinzip Hoffnung – mit hohen Kosten und wahrscheinlich wenig Nutzen. Aber was tun?
Der Staat sollte sich darauf beschränken, die Rahmenbedingungen richtig zu setzen. Wer hausärztliche Versorgung in der Notfallabteilung des Spitals verlangt, muss mindestens die Mehrkosten übernehmen. Die Rekrutierung von Pflegepersonal im Ausland ist zu erleichtern. Der Berufsalltag zu entbürokratisieren. Die strikten Lohnvorgaben im Gesamtarbeitsvertrag sind flexibler zu gestalten, damit besondere Leistungen besonders entlöhnt werden können. Die Spitäler haben dann auch die Freiheit, flexiblere Arbeitszeitmodelle auszuarbeiten. Mehr Wettbewerb unter den Spitälern würde zu Spitalschliessungen führen, was Personal frei macht für andere Orte. Und natürlich ist die Zuwanderung in die Schweiz zu steuern, zum Beispiel mit einer Einwanderungssteuer.

Fehlende Finanzierung

Und was kostet das alles? Vermutlich sehr bald sehr viele Milliarden. Die Probleme in der Pflege drohen das ohnehin schon instabile System der Gesundheitsfinanzierung vollends aus den Fugen zu heben. Ob für die Finanzierung der Pflege im Alter eine obligatorische Pflegefinanzierung nötig ist, wird seit mehr als zwanzig Jahren diskutiert. Angesichts der heute erkennbaren Herausforderungen wäre sie dringend nötig. Und es wäre die Aufgabe des Bundesrates, solche weitreichenden Lösungen vorzuschlagen. Mit den von Alain Berset ausgearbeiteten Detailregulierungen ist dem Problem nicht beizukommen. Es ist, als wolle er mit einem Pflästerli den Bluthochdruck bekämpfen.
Wie in der Energiepolitik hat der Bund im Gesundheitswesen den Pfad der Zurückhaltung verlassen und meint, mit immer neuen Eingriffen in die Gesellschaft den selbst erschaffenen Problemen Herr zu werden. Wie in der Energiepolitik wird dies zu Kosten beim Staat und Fehlallokationen von Ressourcen in der Wirtschaft führen – und das Problem nicht lösen. Innovationen und Unternehmertum haben es in diesem hoch regulierten Umfeld schwer, dabei würden sie mit den richtigen Rahmenbedingungen mehr konkrete Lösungen erarbeiten als die Beamten in der Bundesverwaltung. In der Pflege droht das nächste grosse Staatsversagen.

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