Somms Memo
Das Debakel von Lugano
Marie-Gabrielle Ineichen-Fleisch, Staatssekretärin und Direktorin des SECO.
Die Fakten: An der Lugano-Konferenz führte auch das SECO einen Event durch. Ziel war es, die Rolle der Wirtschaft beim Wiederaufbau der Ukraine hervorzuheben.
Warum das wichtig ist: Man redete von der Wirtschaft – aber sie selbst war nicht da. Kaum ein Unternehmer, kaum ein Manager, dafür Beamten, die von Spenden sprachen statt von Investitionen.
Früher verstand der Direktor des Bundesamtes für Aussenwirtschaft BAWI oft mehr von Wirtschaft als die Wirtschaft selbst.
Heute hält die Direktorin des SECO, die Nachfolgeorganisation des BAWI, in Lugano an der Wiederaufbaukonferenz für die Ukraine eine Rede, wo die Wirtschaft kaum vorkommt, geschweige denn, dass man den Eindruck gewinnt, dass die Wirtschaft die hohe Beamtin stark beschäftigt.
Staatssekretärin Marie-Gabrielle Ineichen-Fleisch sprach zehn Minuten. Ihre Prioritätenordnung offenbarte sich schon in der Anrede:
- Zuerst begrüsste sie den schweizerischen Bundespräsidenten (Ignazio Cassis), dann den ukrainischen Premierminister (Denys Shmyhal), dann die «distinguished» (hervorragenden) Minister der ukrainischen Regierung
- Zum Schluss die «Repräsentanten» der schweizerischen und ukrainischen «Business Community»
Darunter kann man sich natürlich alles vorstellen. Community? Das klang so, als wäre Lugano Woodstock, und ein paar Hippies hätten die Gitarre mitgebracht.
Tatsächlich meinte Ineichen-Fleisch Verbandsfunktionäre, die sie später dann auch namentlich vorstellte.
Von Unternehmern, von Managern, von Ingenieuren oder Arbeitern, von wichtigen Firmen, von Bankiers, von Investoren dagegen war nie die Rede. Also jene Leute, die wie niemand sonst in der Lage sind, die Ukraine wiederaufzubauen, – sie erfreuten sich keiner besonderen Auszeichnung durch die Staatssekretärin.
Sie machte ihrem Namen alle Ehre. Sie ist eine Sekretärin des Staates – nicht der Wirtschaft.
Ein tief verärgerter Konferenzteilnehmer aus der Wirtschaft berichtete mir:
«Ineichen-Fleisch zelebrierte förmlich ihre Distanz zu den Schweizer Firmen. Mit keinem Wort erwähnte sie den Schaden, den wir in der Ukraine erlitten hatten. Und sie verschwieg die vielen Anstrengungen der Schweizer KMU vor Ort, auch während des Krieges die Wertschöpfungsketten in der Ukraine aufrechtzuerhalten.»
Wenig Lob, wenig Herzblut, keine Leidenschaft. Vermutlich hätte ein SECO-Direktor mit ukrainischer Staatsbürgerschaft mehr Positives über die Schweizer Unternehmen gesagt als die Schweizerin Ineichen-Fleisch.
Der Wirtschaftsvertreter fuhr fort:
«Schon im Januar dieses Jahres haben verschiedene IT-Dienstleister in der Schweiz ihre Mitarbeiter in der Ukraine mit ihren Familien in die Schweiz gebracht. Ziel war es, ihr Leben zu schützen, die Firmen zu retten und die Jobs zu garantieren. Schweizer KMU mit Standorten in der Ukraine haben trotz Beschuss und dem Einzug der Männer ins Militär weiter produziert – auch um den Frauen Arbeitsplätze zu sichern. Und selbst Schweizer Firmen, die ihre Produktionskapazitäten im Osten verloren haben, versuchten im Westen des Landes Ersatz zu finden.»
Von solchen Geschichten, von solchen Heldentaten, man kann es nicht anders sagen, erfuhren die Besucher der Lugano-Konferenz nichts. Ineichen-Fleisch zog es vor, die üblichen technokratischen Textbausteine in den Raum zu stellen, wo sie dann stehen blieben wie verlassene Ruinen.
Gewiss – gegen Ende der Rede – sagte sie es dann:
- Die private Wirtschaft spiele eine «Schlüsselrolle» beim Wiederaufbau. Das sagte sie ein einziges Mal. Von Begeisterung war aber nichts zu spüren. Keinen einzigen Unternehmer sprach sie an, um keinen einzigen Investor warb sie
- Stattdessen verwandte sie die übrige Zeit ihrer zehn Minuten auf all das, was der Staat so tut und unterlässt
- Und wenn sie ein einziges Mal weltberühmte Firmen unseres Landes erwähnte, die wohl viel für die Ukraine tun könnten, dann hob sie bloss deren Spenden hervor: Roche, Novartis, Nestlé usw. hätten Millionen an Spenden geschickt – Geld, aber auch Medikamente, Nahrungsmittel, Kleider und sogar Taschenlampen
Dass Ineichen-Fleisch nicht auch noch die Caritas erwähnte, die wohl ebenso alte Kleider nach Kiew verfrachtet hatte, nahm man eher erstaunt zur Kenntnis.
Kurz, es schien Ineichen-Fleisch nie in den Sinn zu kommen, dass sie, die Generalexpertin des Staates in Sachen Wirtschaft, in Lugano den privaten Sektor für die Ukraine hätte gewinnen sollen – falls es ihr ernst war mit der Zukunft des kriegsversehrten Landes.
- Denn es sind die privaten Unternehmen, die Brücken und Strassen, Häuser und Supermärkte, Kraftwerke, Flughäfen und Fabriken bauen – nicht der Staat
- Dabei schicken Unternehmer nicht Spenden, sondern tätigen Investitionen, dafür hätte sich Ineichen-Fleisch einsetzen müssen – statt Almosen in Form von Taschenlampen zu preisen
- Und wenn sie schon als Chefbeamtin in Lugano erscheint, die sich (soviel ich weiss) als Liberale ansieht, dann hätte sie den ukrainischen Politikern klarmachen sollen, was es braucht, um private Investoren anzulocken Das ist ein Know-how, für das der schweizerische Staat weltweit bewundert wird
- Vom schlanken Staat hätte sie also reden sollen, von tiefen Steuern, von zurückhaltenden, klugen Regulierungen, und immer wieder vom Privateigentum, das es um jeden Preis zu schützen gelte, kurz, das ganze liberale Programm, das die Schweiz zu einem der reichsten Länder der Welt gemacht hat
Nichts da. Dafür warnte Ineichen-Fleisch vor Korruption und wies auf den Klimaschutz hin – das dürften ihre Kollegen aus Norwegen, Schweden, Finnland, Deutschland, Österreich usw. ebenfalls getan haben.
Was ist in die Direktorin des SECO gefahren? Was in ihren Chef, Bundesrat Guy Parmelin (SVP), der in letzter Instanz für ihren unglücklichen Auftritt verantwortlich ist?
Vielleicht liegt es daran, dass Ineichen-Fleisch sich bereits in den Ruhestand verabschiedet hat – Ende Juli ist es so weit, im August tritt ihre Nachfolgerin an.
Das wäre noch die freundlichste Interpretation. Tatsächlich dürfte das Problem tiefer liegen. Nicht allein Ineichen-Fleisch kümmert die Wirtschaft kaum, das SECO insgesamt erweist sich zusehends als wirtschaftsfreie Zone. Bitte nicht stören, wir sind am Regulieren.
- Das Event selbst erwies sich als ein Non-Event. Kaum ein Manager, kaum ein Unternehmer, kaum ein Bankier tauchten auf. Wer hier nach Geschäftspartnern und Investoren suchte, fand niemanden, sondern Beamten, die ihm eine neue Regulierung erläuterten
- Eigentlich hatten sich schweizerische Wirtschaftskreise im Vorfeld darum bemüht, dass auch Unternehmer oder Manager auf dem Podium vertreten waren. Doch das SECO wollte davon nichts wissen
Also geschah, was in der Schweiz immer geschieht, wenn die Dinge schieflaufen: Die Menschen nehmen sie selbst in die Hand. Um der Ukraine wirklich zu helfen, organisierten die «Ukrainian Swiss Business Association» und der Schweizerische Gewerbeverband einen eigenen Event im Hotel Pestalozzi nebenan, den «Swiss Ukrainian Business Hub».
Am Ende wandten sich mehr Leute dorthin als in den Palazzo dei Congressi, wo die offizielle Veranstaltung stattfand.
Janis Joplin bei ihrem Konzert in Woodstock, NY, 1969.
Wenn schon Woodstock, dann hätte sich Ineichen-Fleisch vielleicht besser an Janis Joplin gehalten. Die grosse amerikanische Musikerin sang:
«Freedom's just another word for nothin' left to lose».
Ich wünsche Ihnen einen heiteren Tag
Markus Somm