Somms Memo
China II. Oder warum es an das Deutsche Kaiserreich erinnert. Grössenwahn und Selbstmitleid.
Kaiser Wilhelm II. (1859–1941). Ein Mann, der sein Land so sehr liebte, dass er es zerstörte.
Somms Memo gibt's auch als kostenlosen Newsletter. Täglich in Ihrer Mailbox.
Die Fakten: China ist inzwischen die zweitgrösste Volkswirtschaft der Welt, besitzt das zweitgrösste Militärbudget – und wirft den USA vor, seinen Aufstieg zu behindern.
Warum das wichtig ist: China II. Was ist zu erwarten, was zu befürchten? Ein Vergleich mit dem Deutschen Kaiserreich vor 1914.
Im Oktober 1896 schrieb die deutsche Kaiserinwitwe Friedrich, wie man sie nannte, weil sie mit dem deutschen Kaiser Friedrich III. verheiratet gewesen war, ihrer mächtigen Mutter Victoria, Königin von Grossbritannien und Irland, Kaiserin von Indien, Herrscherin des British Empire, etc., einen Brief:
Zwar liebe sie, die gebürtige Engländerin, ihre neue Heimat Deutschland, doch sie sei «ganz elend», wenn sie sehe, wie sich das Land entwickelt habe. Die älteste Tochter der britischen Königin hatte zu diesem Zeitpunkt mehr als dreissig Jahre in Berlin gelebt.
Als «Mutter meines armen William» – damit meinte sie den jungen deutschen Kaiser Wilhelm II. – müsse sie hilflos zusehen, wie dieser «so oft verblendet & im Irrtum» handle.
- «Ich nehme in Deutschland eine systematische Feindseligkeit gegen die Weltstellung des Britischen Reiches wahr, und ein Bestreben, die gegenseitige Handelsrivalität zu nutzen, indem man alle Arten von politischen Wellen schlägt».
Was sie umso mehr irritierte, da ihr Sohn, der Deutsch und Englisch perfekt beherrschte, sich beiden Ländern genauso verbunden fühle:
- «William bewundert England sehr und mag Dich sehr – & geniesst es ausserordentlich, in England zu sein –,
- aber er ist nicht beständig & besonnen und weitsichtig genug zu sehen, dass es einfach unsinnig ist, jeden Nerv Deutschlands zu spannen, um England zu übertreffen – & ihm seine Vorherrschaft in der Welt zu entringen!
- Es ist eine lächerliche, phantastische und wilde Idee; – doch spricht sie seine Phantasie & und seine Liebe für das Grossartige, das Sensationelle & Übertriebene an!»
In der Tat. Wenn es je einen Politiker gegeben hat, dessen Liebe für das «Sensationelle & Übertriebene» ihn am Ende in den Abgrund, nämlich in den Ersten Weltkrieg, geführt hat, dann Wilhelm II., deutscher Kaiser von 1888 bis 1918, – dem Jahr, als er als grösster Verlierer der Weltgeschichte abdankte.
Was seine Mutter schon 1896 mit Sorgen erfüllt hatte, sollte sich nicht mehr ändern. Wilhelm II., der immer so darunter litt, dass ihn die englische Presse lächerlich machte, und er im Punch, dem englischen Nebelspalter, routinemässig als herrschsüchtiger Idiot karikiert wurde, tat alles, um auch in der Wirklichkeit zur Karikatur eines Staatsmannes zu werden.
Starke Gefühle trieben ihn an. Er war sich sicher, dass Grossbritannien den Aufstieg Deutschlands behindere, weil es neidisch war. Und er nahm es persönlich, wie er auch die Weltgeschichte nur persönlich wahrnahm, was wohl daran lag, dass er mit fast allen Monarchen jener Epoche verwandt war – so auch mit Edward VII., dem Nachfolger von Queen Victoria, die 1901 verstorben war. König Edward VII. war sein Onkel, vor dem er sich in Acht nahm, weil er glaubte, dieser hasse ihn – aus Neid.
Vor einem geplanten Treffen schrieb er:
- «Begegnungen mit E[dward] VII. haben keinen dauernden Wert, weil er neidisch ist»
Und bei seinem Gefolge beschwerte er sich, wie sein Onkel
- «gegen ihn intrigiere». Er wisse das «ganz genau aus Privatbriefen aus Frankreich. In anderen Ländern aber sei der König von England ebenso an der Arbeit gegen ihn.»
- «Er ist ein Satan; man glaubt es gar nicht, was für ein Satan er ist».
Weltpolitik als Familienkrach. Weltpolitik war aber auch das Thema, an dem sich Wilhelm II. berauschte. Nachdem es 1871 dem politischen Genie Otto von Bismarck (1815–1898) gelungen war, Deutschland zu einigen, womit ein Gigant in Europa entstanden war, genügte das dem ebenso ehrgeizigen, aber unendlich viel weniger talentierten Wilhelm II. nicht mehr, als er mit 29 Jahren den Thron bestieg.
Kontinentalmacht? Oder doch lieber Weltmacht?
Wilhelm II. stand damit nicht allein. Bei aller Faszination, die mich stets von neuem ergreift, wenn ich über den Kaiser lese und mir die Tatsache vor Augen führe, dass man einem so unfähigen, auftrumpfenden und weinerlichen, ja irrsinnigen Menschen ein solch vielversprechendes Land für so lange Zeit anvertrauen konnte: Für Deutschlands Verhängnis war nicht bloss Wilhelm II. verantwortlich.
Es war eine ganze Generation, die dieser weltpolitischen Verführung erlag. Fast die gesamte deutsche Elite sah die Welt damals wie ihr Kaiser. War nicht die Zeit gekommen, dass Deutschland nach Grösserem strebte?
- Nach 1871 hatte sich das Land prächtig entwickelt, besonders wirtschaftlich, es industrialisierte sich mit Tempo, bald überholte es Grossbritannien, nur die amerikanische Volkswirtschaft war noch stürmischer gewachsen
- Kulturell, vor allem wissenschaftlich hatte Deutschland so viel zu bieten, wie seither vermutlich nie mehr. Deutsche Universitäten galten als die besten der Welt, deutsche Professoren, Techniker und Ingenieure waren so gefragt wie selten zuvor
- Die deutsche Armee hatte mehrere Kriege gewonnen, sie war ein Vorbild, man bewunderte und fürchtete sie als die stärkste Landmacht des Kontinents
Politisch oder besser: weltpolitisch schien sich das aber nirgendwo niedergeschlagen zu haben. Grossbritannien, Frankreich, Russland, selbst die USA hatten sich inzwischen Weltreiche aufgebaut. Ohne Kolonien, so meinte man damals, könne eine grosse Volkswirtschaft nicht überleben – auch wenn dafür jede ökonomische Evidenz fehlte.
Wenn die Deutschen um eine Kolonie baten, so kam es ihnen vor, lachten sie die übrigen Grossmächte aus und überliessen ihnen das kleine Togo oder eine Insel im Pazifik, wo ein paar Eingeborene im Kanu herumfuhren.
Wie Bettler, so beklagten sich die Deutschen, sahen sie sich gezwungen, an Land zusammenzukratzen, was übriggeblieben war, weil es niemand wollte. Wüsten, Sümpfe, Togo eben, usw.
So waren am Ende manche Deutsche davon überzeugt, dass Wilhelm recht hatte, wenn er vom Neid der alten Grossmächte sprach. In der Meinung, von allen gehasst zu werden, verhielten sie sich auch so, dass man sie schliesslich überall hasste.
1914 lag Deutschland mit fast allen grossen Nachbarn über Kreuz, nur Österreich, die schwächste aller Grossmächte war ihm als Verbündeter geblieben. Und allein ging Deutschland im Ersten Weltkrieg unter – wovon es sich streng genommen bis heute nicht mehr erholt hat.
Der amerikanische Historiker Paul Kennedy hielt das für ein Naturgesetz: Dass eine aufstrebende Grossmacht mit der alten Hegemonialmacht in Streit gerät. Wenn ich an die Epoche vor 1914 denke, trifft das zu. Aber gilt es auch heute?
Die chinesische Führung erinnert mich in manchen Dingen an Wilhelm II. und seine Minister, ich habe es gestern schon erwähnt:
- Das gleiche Selbstmitleid
- Die gleiche Meisterschaft, es sich mit allen zu verderben (so gut wie kein Land in Asien traut den Chinesen über den Weg)
- Viel Ambition, wenn nicht Grossspurigkeit, aber wenig konkrete Ziele
- Aufrüstung um der Aufrüstung willen – auf die Gefahr hin, dass man diese Waffen dann benutzen muss, ohne zu wissen, wozu
Als Bismarck im Sterben lag, schrieb Sir Leopold Swaine, ein britischer Militärattaché, nach London. Er riet seiner Regierung, eine prominente Abordnung an die Beerdigung zu schicken, um den Deutschen, die Bismarck so vergötterten, zu zeigen, wie sehr man ihre Trauer verstünde:
«Jede Ehrenbezeigung für den grossen Staatsmann (…) wird ganz sicher eine heilsame Wirkung bei allen richtig-denkenden Menschen in Deutschland haben.»
Und er fügte bei:
«Wir sind eine alte Nation und können es uns leisten, vis-à-vis einem Emporkömmling grosszügig zu sein.»
Ich wünsche Ihnen einen wundervollen Tag
Markus Somm
PS. Die beste Biografie über den letzten deutschen Kaiser hat John C. G. Röhl, ein britischer Historiker, vorgelegt: «Wilhelm II.», drei Bände, erschienen beim Beck Verlag München, 2010. Daraus stammen auch sämtliche Zitate.