Somms Memo

China gegen Amerika: Wie könnte der Machtwechsel friedlich verlaufen?

image 15. Juni 2023 um 10:00
Die USS Raleigh im Spanisch-Amerikanischen Krieg, 1898. (Zeitgenössische Fotografie)
Die USS Raleigh im Spanisch-Amerikanischen Krieg, 1898. (Zeitgenössische Fotografie)
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Die Fakten: 1960 betrug das BIP von China 60 Milliarden $, jenes der USA 550 Milliarden $. Heute kommt China auf 18 Billionen $, die USA auf 23 Billionen $. Warum das wichtig ist: Wenn früher eine neue Macht aufstieg und auf eine Alte stiess, kam es fast immer zum Krieg. Ist ein Dritter Weltkrieg unvermeidlich? 1880 sah sich der Sultan des Osmanischen Reiches gezwungen, in seinen Aussenbeziehungen Geld einzusparen, zumal sein Land wie so oft zu jener Zeit in finanziellen Schwierigkeiten steckte. Also schloss er seine diplomatischen Vertretungen – dort, wo es nicht so darauf ankam: in Schweden, in Belgien, in den Niederlanden – und in den USA.
  • Amerika, jenes Land auf der anderen Seite des Atlantiks, galt in den Augen des Sultans als politische Provinz. Warum dafür Geld ausgeben? In Bern war man auch nicht akkreditiert

Damit stand der türkische Herrscher nicht allein:
  • Ein deutscher Diplomat war zu jener Zeit bereit, ein tieferes Gehalt zu akzeptieren, wenn man ihn nur von Washington nach Madrid versetzte. Er fand es todlangweilig am Potomac
  • Als Grossbritannien einen neuen Botschafter nach den USA entsandte, wählte es Sir Lionel Sackville-West, dessen einzige Stärke darin lag, dass er der unfähige Sohn eines Earls und der unfähige Schwager eines Dukes war. Ansonsten machte er von sich reden, weil er seit Jahren mit einer spanischen Tänzerin liiert war, mit der er sechs uneheliche Kinder gezeugt hatte

Wenn man diesen Diplomaten aus gesellschaftspolitischen Gründen schon irgendwo unterbringen musste, dann, so dachte man in London, am liebsten in Washington, wo es keine Rolle spielte, wenn er sich blamierte. Der Schaden, den er verursachen konnte, schien hier am geringsten. Zwanzig Jahre später, um 1900, sah die Welt ganz anders aus.
  • Die USA hatten inzwischen Grossbritannien als grösste und leistungsfähigste Volkswirtschaft abgelöst (kurz darauf, 1910, folgte Deutschland)
  • 1898 waren die USA gegen Spanien in den Krieg gezogen. Unter dem Vorwand, den kubanischen Unabhängigkeitskampf zu unterstützen, griffen sie das alte, aber erschöpfte Kolonialreich an. Innert weniger Monate war Spanien am Ende. Die USA annektierten Puerto RicoGuam und die PhilippinenKuba wurde unabhängig, blieb allerdings zehn Jahre lang amerikanisch besetzt

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Uncle Sam schult vier Kinder ein: die Philippinen, Hawaii, Puerto Rico und Kuba. (Zeitgenössische Karikatur)

Damit stiessen die USA in den Klub der Grossmächte vor. Niemand scheute jetzt noch den Aufwand, einen Botschafter in Washington zu stationieren, und in Europa erschienen die ersten Bücher und Artikel zum Thema: «Die amerikanische Herausforderung». Wann wird Amerika uns abhängen? Besonders die Briten, die Franzosen und die Deutschen gerieten ins Grübeln. Angst, Bewunderung und Neid.

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Wenn man diesen phänomenalen Aufstieg der damaligen USA mit jenem Chinas vergleicht, der sich jetzt vor unseren Augen vollzieht, dann fällt auf, wie sehr sich die beiden Geschichten gleichen:
  • Vor zwanzig Jahren rechnete wohl niemand damit, dass wir uns heute vor einem neuen Kalten Krieg fürchten – zwischen der alten Supermacht USA und der neuen China
  • Beide Male erfolgte die tektonische Verschiebung in der Weltpolitik sehr unvermittelt, beide Male setzte der Wettbewerb unter wirtschaftlichen Vorzeichen ein, bald ging es auch ums Militärische

Schon Ende des 19. Jahrhunderts nahmen sich die USA vor, die Royal Navy, die mächtigste Flotte der Welt, einzuholen, was Schlagkraft und Umfang betraf. Seit wenigen Jahren baut China genauso an einer eigenen Flotte – ausgerechnet China, das in seiner langen Geschichte noch nie wirklich eine Seemacht war.
  • Die Barbaren stehen vor den Mauern und rütteln an den Toren,
  • das Establishment verschanzt sich in der Festung – während man im Thronsaal in Panik gerät und die Nase rümpft

Der amerikanische Politikwissenschaftler Graham Allison, der in Harvard lehrt, hat dazu eine aufschlussreiche Arbeit verfasst, Titel: «Die Falle des Thukydides». Darin untersucht er 16 solcher Konstellationen, wo ein Newcomer eine etablierte Macht herausfordert, wie zum Beispiel:
  • England (Herausforderer) gegen Holland (etabliert) 17. Jahrhundert
  • Frankreich gegen England, 1759 bis 1815
  • Deutschland gegen Grossbritannien, 1900 bis 1945
  • USA gegen Grossbritannien, frühes 20. Jahrhundert

Von der «Falle des Thukydides» spricht Allison, weil sich der griechische Historiker zum ersten Mal mit der Rivalität unter ab– und aufsteigenden Grossmächten befasst hat. Liege ein solches Szenario vor, führe das fast immer zum militärischen Konflikt, meinte Thukydides und sah darin die Ursache des Peloponnesischen Krieges (431 bis 404 v. Chr.).  Allerdings endete dieser mit dem Untergang des jungen Herausforderers Athen, wogegen Sparta, die alte Vormacht, die Oberhand behielt. Es erholte sich nie mehr von seinem Sieg.  «Es war der Aufstieg Athens, und die Furcht, die das in Sparta hervorrief, was den Krieg unvermeidlich machte», schrieb Thukydides.
  • Allison bestätigt Thukydides’ These: In 12 der 16 Fälle, die er näher betrachtet hat, endete die Konkurrenz im Krieg
  • Ausnahmen? Eine ist die bemerkenswerteste: Amerika und England

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Als die USA zwischen 1880 und 1900 zur Grossmacht heranwuchsen, störten sie damit die Kreise von Grossbritannien, das nicht nur die Meere beherrschte, sondern sich das grösste Reich der Weltgeschichte unterworfen hatte. Trotzdem kam es nicht zum Krieg. Vielmehr löste Amerika im Lauf des 20. Jahrhunderts England als Hegemon ab, als handelte es sich um einen friedlichen Stafettenlauf. Warum? Thema für ein nächstes Memo. Vorderhand nur so viel: Auch damals, in ihren womöglich schwersten Stunden, erwiesen sich die Briten als die begabtesten Aussenpolitiker aller Zeiten. Sie gaben nach. Was immer die USA in der westlichen Hemisphäre vorhatten, Grossbritannien liess sie grosszügig gewähren. Früh, Jahre vor dem Ersten Weltkrieg, erkannten die britischen Politiker, dass sie die USA irgendwann als Freund brauchten, und sie taten alles, damit das Land der Zukunft auch in Zukunft nie ihr Feind wurde. Gewiss, die gemeinsame Sprache half – oder auch nicht. John Cleese, der britische Comedian von Monty Python, sagte: «Es gibt drei grundlegende Unterschiede zwischen uns Briten und Euch Amerikanern. Erstens sprechen wir Englisch, und Ihr nicht. Zweitens, wenn wir eine World Championship veranstalten, laden wir Teams aus anderen Nationen ein. Drittens, wenn Sie das britische Staatsoberhaupt treffen, müssen Sie nur auf ein Knie gehen.» Ich wünsche Ihnen einen wunderbaren Tag Markus Somm

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