Somms Memo
Charles III.: Niemand scheint beliebter als ein alter, weisser, christlicher König. Was lief da falsch?
Justin Welby, der Erzbischof von Canterbury, krönt in Westminster Abbey König Charles III.
Somms Memo gibt's auch als kostenlosen Newsletter.
Täglich in Ihrer Mailbox.
Die Fakten: 20 Millionen Briten haben die Krönung von Charles III. am Fernsehen oder im Internet mitverfolgt, 400 Millionen weltweit.
Warum das wichtig ist: Hat da jemand gesagt, England litte unter dem schlechten Ruf des British Empire? Vom Phänomen des beliebten Imperialismus.
Auf dem Höhepunkt seiner Machtentfaltung im Jahr 1922, als es so gross war wie kein anderes Reich jemals zuvor in der Geschichte der Menschheit, zählte das British Empire
- 449 Millionen Einwohner (rund ein Viertel der Weltbevölkerung)
- Am vergangenen Samstag schauten fast genauso viele Menschen zu, als König Charles III. in London gekrönt wurde: rund 420 Millionen
Bestünde das Empire noch, würde man das ja verstehen:
Charles III. wäre der mächtigste König der Welt, ein Globalkaiser – er herrschte unter anderem in Grossbritannien und Nordirland, Australien, Kanada, Neuseeland, etc., dann in halb Afrika, im Nahen Osten sowie in wesentlichen Teilen von Asien, last but not least regierte er als Kaiser von Indien.
Aber angesichts der weitverbreiteten Meinung im Westen, wonach wir uns für den Kolonialismus zu entschuldigen hätten, ob in der britischen oder französischen oder einer anderen Fassung, erstaunt das weltweite Interesse doch einigermassen.
Wenn der Imperialismus doch so schrecklich und ungerecht war, warum tun sich das die Leute in Indien, Arabien oder Afrika an – und erleben freiwillig mit, wie in einem überaus christlichen, also westlichen Ritual ein König inthronisiert wird, mit dem sie doch, wie uns immer gesagt wird, nichts mehr zu schaffen haben wollen?
- Ist es Nostalgie?
- Sadomasochismus?
- Oder falsches Bewusstsein, wie die Marxisten und ihre linken Nachfolger das gerne sagen, wie sie das immer sagen, wenn die Empirie ihre theoretischen oder politischen Annahmen widerlegt
Womöglich hat es damit zu tun, dass der Westen eben doch nicht so unpopulär ist. Zwar wird da und dort gemurrt, wenn man sich an die dunklen Seiten des Kolonialismus erinnert, die es natürlich (und nicht zu knapp) gegeben hat, doch zugleich ist da eben auch eine zuweilen morbide, oft aber ehrliche Faszination geblieben, als ob man ausserhalb Europas instinktiv wüsste, dass es eben auch Gründe gab für den Kolonialismus:
- Und diese lagen darin, dass der Westen seit dem 16. Jahrhundert vielen anderen Kontinenten und Ländern der Welt mit Siebenmeilenstiefeln enteilt war
- Dank seiner Wissenschaft und Technologie, dank Kapitalismus, brutal effizientem Militär und modernem Staat erwies sich der Westen fast 500 Jahre lang als dermassen überlegen, dass es Generälen, Seefahrern, Kaufleuten und Abenteurern ein Leichtes war, fremde Gebiete zu unterwerfen und zu besetzen
- Verspürte man moralische Skrupel? Manchmal schon; besonders zu Hause kam hin und wieder Kritik auf, doch man tat es, weil man konnte. Und weil man wusste, dass die anderen es ebenso tun würden, wenn sie dazu in der Lage wären
Oder haben die Araber je freiwillig auf ein Stück Land verzichtet – aus menschenfreundlichen Überlegungen? Ebenso wenig waren die Chinesen je bereit, sich von irgendwo zurückzuziehen. Von den Türken, Mongolen, Inka oder Persern ganz zu schweigen.
Wer erobern konnte, tat es, ohne sich zu fragen, ob er denn darf. Die Liste der aussereuropäischen Imperialisten liesse sich beliebig fortschreiben.
Was den Westen allerdings als einzigartigen Imperialisten erscheinen lässt, ist nicht bloss sein überragender Erfolg, sondern die Tatsache, dass er sich noch Jahrzehnte danach selber Vorwürfe macht. Von solch einem schlechten Gewissen haben wir bisher noch nie etwas vernommen – weder aus China, Arabien noch aus der Türkei und der Mongolei (Dschingis-Khan!)
Machen wir uns nichts vor: Auch die Anti-Imperialisten stammten zunächst und kommen bis heute vorwiegend aus dem Westen.
- Das British Empire war das grösste Reich aller Zeiten
- Und dessen Nachfolger, die Briten, sind auch die melancholischsten, selbstkritischsten und zerknirschtesten Imperialisten aller Zeiten
Das liess sich auch an der Krönung beobachten, die am letzten Samstag in London stattfand – und ich sage es nicht ironisch, sondern stelle es mit Bewunderung fest.
Gibt es denn ein Volk auf der Erde, das wie die Engländer so zivil mit vergangener Barbarei umgeht?
Drei Beispiele:
- Wohl war die Krönung christlich, besser: protestantisch geprägt. Gleichzeitig gelang es Charles III. (der eine entscheidende Rolle gespielt haben soll), andere Konfessionen und Religionen würdig einzubeziehen. Die Führer anderer Kirchen (Orthodoxe, Katholiken, Freikirchler, etc.) und nicht-christlicher Religionsgemeinschaften (Muslime, Sikh, Buddhisten, Hindu, Zoroastrier, Jainismus, Juden, Bahaitum) durften als Erste in die Kirche einziehen. Ebenso übergab er ihnen während der Feier wichtige zeremonielle Aufgaben. Am Ende verabschiedete sich Charles III. persönlich von ihnen.
- Unter den zwölf Musikstücken, die der König eigens für seine Krönung in Auftrag gegeben hatte, befand sich auch ein Gospel-Song, ironischerweise von einer Jüdin komponiert, aber von einem schwarzen Chor glänzend vorgetragen Die Juden wurden 1290 aus England verbannt – bis sie im 17. Jahrhundert der Puritaner (und Königsmörder) Oliver Cromwell zurückrief. Gospel-Musik entstammt dem Widerstand der in Amerika versklavten Afrikaner. Die Engländer zählten einst zu den schlimmsten Sklavenhändlern der Welt Was für ein Triumph, dass schwarze Sänger an der Krönung dieses weissen Königs ihre Musik des oppositionellen Trostes aufführten
- Als es darum ging, aus dem Evangelium vorzulesen, fiel Rishi Sunak, dem britischen Premierminister, diese ehrenvolle Aufgabe zu. Er rezitierte aus dem ersten Kapitel des Briefes von Paulus an die Kolosser (Kol 1,9–17): «Darum lassen auch wir von dem Tag an, an dem wir’s gehört haben, nicht ab, für euch zu beten und zu bitten, dass ihr erfüllt werdet mit der Erkenntnis seines Willens in aller geistlichen Weisheit und Einsicht». Sunak ist ein gläubiger Hindu. In welchem Land dieser Welt gibt es einen dunkelhäutigen Premierminister, dessen Vorfahren aus Indien stammen, und der als Brite und Hindu an der Krönung seines protestantischen, weissen Königs das Evangelium verkünden darf?
Das British Empire war eine brutale, oft skrupellose Angelegenheit. Und doch kenne ich kein vergangenes Reich, das es so gut verstanden hat, seine ehemaligen Untertanen auf diese Art und Weise an sich zu binden, ja zu betören – und das offensichtlich auf lange Sicht. Kein Herrenvolk blieb je so beliebt wie die Briten. Kein Herrenvolk gab aus freien Stücken so elegant und souverän seine Macht ab.
Wenn es je ein ähnliches Wunder der inklusiven Herrschaftstechnik gegeben hat, dann fällt mir nur das Römische Reich ein, wo ehemalige Sklaven zu Feldherren aufstiegen, Ausländer zu Kaisern und am Ende gar ein unbekannter Jude aus Nazareth dem ganzen Reich seine Religion auferlegen konnte. Das tat er übrigens gründlich.
Wie die nach wie vor christliche Krönung von Charles III. in der Westminster Abbey belegt, die etwa 2023 Jahre nach der Geburt Jesu in dessen Namen vorgenommen wurde.
Rishi Sunak, Brite und Hindu, las weiter:
«Mit Freuden sagt Dank dem Vater, der euch tüchtig gemacht hat zu dem Erbteil der Heiligen im Licht. Er hat uns errettet aus der Macht der Finsternis und hat uns versetzt in das Reich seines geliebten Sohnes, in dem wir die Erlösung haben, nämlich die Vergebung der Sünden.»
Ich wünsche Ihnen einen pluralistischen Wochenbeginn
Markus Somm