somms memo
Boris Johnson: Zu faul oder zu arrogant, um zu überleben?
Boris Johnson, Premierminister von Grossbritannien, angeschlagen.
Die Fakten: Zwei der wichtigsten Minister von Boris Johnson sind zurückgetreten. Sie hätten, so ihre Begründung, jedes Vertrauen in den Premierminister verloren.
Warum das wichtig ist: Erneut hat es Johnson mit der Wahrheit nicht so genau genommen. Der Mann scheint unbelehrbar, der Mann dürfte bald Geschichte sein.
Vor wenigen Tagen musste Christopher Pincher seit Amt als Deputy Chief Whip, eine Funktion im britischen Parlament, aufgeben, nachdem bekannt geworden war, dass er in einem Londoner Club zwei Männer sexuell belästigt hatte.
- Offensichtlich war das nicht das erste Mal, inzwischen spricht man von sechs solchen Übergriffen. Nicht alles ist bewiesen, doch das Muster scheint klar, seit Jahren kursieren in Westminster Gerüchte
- Ein Deputy Chief Whip ist eine Art stellvertretender Fraktionschef, gleichzeitig gehört er aber der Regierung an. Johnson hat ihn ernannt. Ganz Grossbritannien fragte sich deshalb: Warum hat Johnson ihm vertraut?
- Es folgte eine Kaskade der Widersprüchlichkeiten: Zuerst gab Johnson an, er habe nichts von spezifischen Vorwürfen gegen Pincher gewusst, als er ihm das Amt gab, dann sagte er, er habe davon gehört, aber gemeint, es handle sich um unbelegte Klagen, schliesslich meldete sich gestern ein ehemaliger Chefbeamter zu Wort und widerlegte den britischen Premierminister: Schon 2019 war ein ähnlicher Vorfall untersucht – und bewiesen worden. Pincher hatte sich dafür entschuldigt und Besserung versprochen. Dabei war Johnson, damals noch als Aussenminister, persönlich darüber ins Bild gesetzt worden. Kurz, nach menschlichem Ermessen muss er alles gewusst haben
Boris, der Lügner.
Ob er sich nicht mehr zu erinnern vermochte – oder bewusst die Unwahrheit gesagt hat, es kommt nicht mehr darauf an.
Zu viel ist zu viel.
Noch am gleichen Nachmittag stellten zwei der gewichtigsten Minister von Johnson ihr Amt zur Verfügung:
- Rishi Sunak, der Schatzkanzler (Finanzminister) und
- Sajid Javid, Gesundheitsminister, ebenfalls ein ehemaliger Schatzkanzler
- Beiden, zwei blitzgescheiten, jetzt reichen Aufsteigern aus südasiatischen Einwandererfamilien, werden weitergehende Ambitionen nachgesagt. Beide wollen irgendwann wohl selber Premierminister werden
Mit Blick auf die lange Geschichte des britischen Parlamentarismus (je nach Definition rund 800 Jahre) gilt es als ausgeschlossen, dass Johnson diese beiden Rücktritte übersteht. Wer das Vertrauen seiner Partei, seiner Fraktion und seines Kabinetts verloren hat, so die Regel, ist selber verloren.
Wenn es um Johnsons politisches Überleben geht, haben sich allerdings bisher alle Beobachter getäuscht. Auch ich halte ihn seit längerem für einen Untoten, der nur noch zur Geisterstunde zum Leben erwacht.
Johnson sieht es anders – und das ist vielleicht seine Stärke und seine Schwäche zugleich. Von der Realität hat er sich noch nie sonderlich beeindrucken lassen, sollte sie davon abweichen, was er sich darunter vorstellt. Warum das so ist?
Der Mann war ursprünglich Journalist – will sagen, er redet und schreibt so gut, dass sich die Wirklichkeit jeder Zeit seinem Text unterwirft. Zuerst die Pointe, dann die Wahrheit, sofern sie zur Pointe passt.
Boris, der Flunkerer.
Als Johnson in Eton, der besten Privatschule Englands, zur Schule ging, schrieb deren Headmaster Martin Hammond einmal einen Bericht über ihn. Der Bub, ein charmantes Monster, dem alles leicht zu fallen schien, solange man ihn nur machen liess, brachte manch einen Lehrer zum Verzweifeln. Von «müheloser Überlegenheit» war die Rede, wie sie Boris zu Schau trug, man hätte auch sagen können: Der Bub war blasiert und liebenswürdig zugleich.
Hammond schrieb 1982 dem Vater:
«Ich denke, Boris glaubt ehrlich, dass wir einfach zu kleinkariert sind, um ihn als Ausnahmeerscheinung zu betrachten, als einen, den man aus dem Netz von Verpflichtungen befreien sollte, das uns alle anderen bindet».
Boris, der Prinz.
Wahrscheinlich meint er das heute noch.
- Deshalb hat er die Kritik auch nie ernst genommen, die auf ihn niederging, als ruchbar wurde, dass er die Corona-Regeln für sich selbst als nicht so verbindlich auffasste. Partygate, wie der Skandal heute heisst, blieb für ihn in erster Linie eine Party
- Und aus dem gleichen Grund lässt er sich erneut beim Lügen ertappen, ohne Not, weil er einfach zu faul oder zu arrogant ist, als dass er wirklich um sein Amt zu zitterte und sich entsprechend benähme. Der Mann ist unbelehrbarer als ein alter Heiratsschwindler, den niemand mehr heiraten will
Und der letzte löscht das Licht? Joe Biden, Olaf Scholz, Boris Johnson, Emmanuel Macron.
Wenn Boris Johnson fällt, dann passt das zum Bild der allgemeinen Auflösung, das sich derzeit im Westen darbietet, wenn man das politische Führungspersonal ins Auge fasst: So gut wie jeder Politiker eines wichtigen Landes wirkt angezählt:
- Olaf Scholz (Deutschland), unbeliebt wie ein Gerichtsvollstrecker, der nicht einmal sagen kann, warum er an der Tür auftaucht
- Joe Biden (USA), ein alter Mann, so alt, dass selbst seine Demokraten an seinem Gesundheitszustand zweifeln
- Emmanuel Macron (Frankreich), der, so macht es den Eindruck, mit Putin öfter telefoniert als dass er mit den eigenen Wählern redet. Dabei stösst er in Moskau genauso auf taube Ohren wie in Paris
Angesichts der vielen Herausforderungen, die sich den Politikern stellen:
- Inflation, eine mögliche Rezession
- Krieg in der Ukraine
- Corona ohne Ende
Kann man nur sagen: Gute Nacht. Lichterlöschen im Westen.
Oder vielleicht sehe ich es auch zu finster und Mark Twain, der amerikanische Schriftsteller, hatte recht, als er seinen Bekannten mitteilte:
«Die Nachricht von meinem Tod ist stark übertrieben.»
Ich wünsche Ihnen einen hoffnungsvollen Tag
Markus Somm