Somms Memo

Berlusconi, ein Betrüger, ein Frauenheld, ein Entertainer. Warum hatte er Erfolg?

image 13. Juni 2023 um 10:00
Silvio Berlusconi mit Freundinnen. (Bild: Keystone)
Silvio Berlusconi mit Freundinnen. (Bild: Keystone)
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Die Fakten: Silvio Berlusconi ist tot. Kein Italiener war länger Ministerpräsident – ausser Mussolini. Morgen findet das Staatsbegräbnis statt. Warum das wichtig ist: Berlusconi war ein Betrüger, ein Aufschneider, ein geschmackloser Entertainer. Er wurde vier Mal gewählt, weil das Establishment so inkompetent ist. Wenn man sich fragt, welche italienischen Politiker der jüngeren Vergangenheit in die Geschichte eingehen werden, will heissen: man erinnert sich auch in hundert Jahren noch an sie, dann sind das zwei:
  • Benito Mussolini (1883-1945), ein Verbrecher, ein Diktator und ein Clown
  • Und Silvio Berlusconi (1936-2023), ein verurteilter Steuerbetrüger, ein Frauenheld und ein Clown

Was für eine erbärmliche Bilanz für eines der grandiosesten, kultiviertesten und wirtschaftlich stärksten Länder der Welt. Vielleicht war die Einigung Italiens doch nicht so eine gute Idee – darum soll es hier aber nicht gehen, sondern mich beschäftigt, was in Italien seit den 1990er Jahren zu beobachten war – weil Italien kein Sonderfall ist.
Silvio Berlusconi, ein durchaus tüchtiger, wenn auch ruchloser Unternehmer, stieg 1994 in die Politik ein:
  • mutmasslich, weil er sich vor möglichen juristischen Bedrohungen schützen wollte, (man sagte ihm Verbindungen zur Mafia nach)
  • offiziell, um Italien vor der «kommunistischen Gefahr» zu retten, wie er selber sagte.

Der Berufswechsel geriet zum Triumph. Schon wenige Monate später, im März 1994, gewann er die Wahlen – mit einer Partei, die er wenige Wochen zuvor erst aus dem Boden gestampft hatte: genannt «Forza Italia», ein Begriff aus dem Fussball, den er nur zu gut kannte als damaliger Besitzer von AC Mailand, einem schier unschlagbaren Seriensieger, den er sich zum Vorbild nahm.

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Tatsächlich sollte Berlusconi, der sich als italienischer Reagan anbot, der das Land neoliberal revolutionieren wollte, noch viele Wahlen für sich entscheiden. Forza Italia. Insgesamt wählten ihn die Italiener und Italienerinnen (ja auch sie) vier Mal zum Ministerpräsidenten ihres Landes:
  • zuletzt 2008, bis er 2011 unfreiwillig zurücktrat, wozu ihn die EU, insbesondere die Europäische Zentralbank EZB, faktisch gezwungen hatte
  • Er hatte sich aus Sicht der EU zu lange als Migränenpolitiker erwiesen, zumal er nicht immer genau das tat, was Brüssel wünschte
Das ist das eine, wo er sich durchaus Verdienste erwarb. Das andere aber war sein Charakter, und der war je nach Standpunkt sehr, sehr originell oder einfach miserabel:
  • Berlusconi stand stets mit einem Bein im Gefängnis, zum Teil, weil ihn seine Gegner mit zahllosen, auch ungerechtfertigten Prozessen belangten, um ihn unschädlich zu machen, zum anderen Teil aber auch, weil er ziemlich sicher viele illegale Dinge tat, auch wenn man ihm das kaum je nachweisen konnte. Einmal nur reichte es. 2013 wurde er wegen Steuerbetrugs zu vier Jahren Gefängnis verurteilt
  • Als viel krasser, viel abstossender erwiesen sich seine Frauenbeziehungen. Noch als er im Amt war, kam heraus, dass er für sich und seine Freunde regelmässig Orgien mit sehr jungen, wenn nicht minderjährigen Prostituierten feierte. Weil er unter einer so hohen Arbeitsbelastung stehe, schaue er ab und zu gerne eine «schöne Frau» an, das sei besser als «schwul zu sein», erklärte er. Eine Staatsanwältin, die vergeblich versucht hatte, ihn des Sexes mit einer Minderjährigen zu überführen, nannte ihn einen «Sultan», der sich ein Harem halte

Falsch war das nicht. Wie überhaupt sehr viele der üblen Geschichten, die man ihm nachsagte, zutrafen. Niemanden (vor Donald Trump) hassten die Journalisten in Italien, in Europa und in Amerika mehr als Berlusconi, niemanden verfolgten sie mit ihren Recherchen und Kommentaren brutaler und hartnäckiger.

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Berlusconi im Gespräch mit europäischen Politikern. (Bild: Keystone)

Dabei war das nur ein Ablenkungsmanöver. Wenn auch Berlusconi viele charakterliche Mängel aufwies und auch sein politischer Leistungsausweis viel zu wünschen übrigliess: Er wurde immer wieder demokratisch gewählt. Er blieb fast bis zuletzt eine dominante Figur in Italiens Politik. Warum?
  • Weil sich die Politiker des Establishments, des europäischen Mainstreams, als dermassen inkompetentherausstellten
  • Aus schierer Verzweiflung, so muss man feststellen, wählten die Italiener einen Mann, von dem sie wussten, dass er eigentlich die Qualitäten eines Schweins besass, wenn er sie nicht gerade mit lustigen Witzen unterhielt
Und die Verzweiflung war gross – und ist es bis heute geblieben.
  • Das Land kommt wirtschaftlich kaum mehr vom Fleck. Eine einst führende Volkswirtschaft stottert, ächzt, kracht – nicht zuletzt, weil der Staat fast alles falsch macht, was man falsch machen kann
  • Steuern: hoch; Regulierungsdichte: Irrsinn, Korruption: unverändert, wie fast immer seit Gründung des modernen Italiens (1861). Inzwischen wandern die besten Leute aus, die Unternehmer brächten sich virtuell am liebsten um
  • Schulden? Reden wir über etwas Anderes

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Denn was sich in Italien seit den 1990er Jahren zutrug, gilt ja auch für die übrigen Länder des Westens. Kaum eine Regierung bringt es mehr fertig, dringende Probleme, die weite Teile der Bevölkerung belasten, zu lösen. Wenige Stichworte genügen:
  • Immigration
  • Euro
  • Wirtschaftswachstum
  • Energie

Wer – wie heute die meisten Politiker des Westens – seinen Bürgern nicht mehr garantieren kann, dass in einem kalten Winter auch genügend Strom zur Verfügung steht, der hat vermutlich seinen Beruf verfehlt. Inkompetenz hat sich in unseren Verwaltungen, Universitäten, Kabinetten und internationalen Organisationen so flächendeckend ausgebreitet, dass manche Bürger den Eindruck erhalten, nur ein möglichst grober Pflock brächte noch Abhilfe. Man ruft nach Abrissbirnen, nach Baggern, nach Sprengmeistern. Deshalb erhielten Trump, Johnson, Farage, Le Pen, Weidel, Wilders, ja auch Blocher, eine Chance. Deshalb sind einige unter ihnen, die noch vor wenigen Jahren in der Politik nie in Frage gekommen wären. Wer den Aufstieg dieser «Rechtspopulisten» beklagt, sollte zuerst einmal über die eigene Verantwortung nachdenken. Inkompetenz ist die Schwäche der Eliten unserer Zeit. Kein Wunder, hoffen die Bürger auf ein Wunder: «Ich bin der Jesus Christus der Politik», sagte Berlusconi: «Ich bin ein geduldiges Opfer, ich ertrage alles, ich opfere mich für alle». Silvio Berlusconi starb am Montag in Mailand. Er war 86 Jahre alt. Ich wünsche Ihnen einen nachdenklichen Tag Markus Somm

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