Freiheit und Sinn

Auf das «Warum» kommt es an

image 24. Dezember 2022 um 04:00
Viktor Frankl überlebte das KZ – und zog Schlüsse daraus, die noch heute gültig sind. (Archivbild: Keystone)
Viktor Frankl überlebte das KZ – und zog Schlüsse daraus, die noch heute gültig sind. (Archivbild: Keystone)
Viktor Frankl (1905-1997) war Psychiater in Wien. Er leitete von 1933 bis 1937 den «Selbstmörderinnenpavillon» am psychiatrischen Krankenhaus. Er soll dort bis zu 3000 Patientinnen pro Jahr betreut haben.
Doch die eigentliche Bewährungsprobe in seinem Leben war eine ganz andere: Im September 1942 wurde er zusammen mit seiner Frau und seinen Eltern in das Konzentrationslager Theresienstadt deportiert. Später wurde er nach Auschwitz und von dort nach Kaufering in ein Aussenlager des KZs Dachau verfrachtet. Seine Familie wurde von den Nationalsozialisten ausgelöscht. Viktor Frankl überlebte. Er wählte das Leben, statt den mit Strom geladenen Lagerzaun zu berühren, der sein für uns unvorstellbares Leiden beendet hätte.

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Viktor Frankl 1965 (Bild: Wikipedia Commons, http://www.landsberger-zeitgeschichte.de/Geschichte/geschichte/Frankl.htm)

Das Buch, das er über seine Erfahrungen in der Todesmaschinerie der Nazis schrieb, zählt zu den bedrückendsten Dokumenten des 20. Jahrhunderts. Frankl überlebte zog aus dieser Erfahrung wissenschaftliche Schlüsse und entwickelte seinen eigenen Therapieansatz, die «Logotherapie» oder auch die «Dritte Wiener Schule der Psychotherapie» für von Depressionen und Neurosen geplagte Patienten. Darum ist es auch ein Dokument, das Hoffnung macht.
Seit der Pandemie steigen die Fälle insbesondere von jungen Menschen, die wegen psychischen Problemen ärztliche Hilfe benötigen oder sich gar etwas antun. Viktor Frankl schildert mit dem Blick des Wissenschaftlers, was ihn im Konzentrationslager am Leben hielt: Es ist das «Warum». Es ist der Sinn und Zweck des eigenen Lebens.

Der Sinn kommt von innen

Das tönt zuerst einmal banal und schon fast selbstverständlich. Aber wenn Frankl dies anhand des Lagerlebens im KZ schildert, ist nichts mehr banal. Dieser Sinn kommt nicht von aussen, wird einem nicht von jemandem in Auftrag gegeben oder irgendwie zugeteilt. Nein, der Sinn kommt von innen. Es ist ein individueller Sinn, von Mensch zu Mensch verschieden, basierend auf den eigenen Erfahrungen und Erkenntnissen, angepasst an die Umstände. Und sogar im eigenen Leben sich wandelnd, entwickelnd.
Dass Frankl dies ausgerechnet im Konzentrationslager erkannte, ist kein Zufall. Das KZ bildet sozusagen die perfekte Umgebung für ein ungewolltes Experiment an sich selbst. Denn eine stärker sinnentleerte Umgebung als ein Konzentrationslager ist kaum vorstellbar. Im KZ wird den Insassen jedes Detail ihres Lebens befohlen. Auf das Innerste der Seele haben die Schergen aber keinen Zugriff. Wenn einer in dieser Umgebung dem Leiden einen Sinn abtrotzen kann, dann muss es ihn geben, diesen Lebenssinn aus sich selbst hinaus.

Das «Wie» ertragen

Frankl schildert, wie er oft an seine Frau Tilly dachte, die zwar längst im KZ Bergen-Belsen getötet worden war, was er aber nicht wusste. Bei den langen Märschen in kaputten Schuhen durch den Schnee wanderten seine Gedanken zur Liebe seines Lebens. Die Hoffnung, sie vielleicht wiederzusehen, gab ihm Sinn. Frankl erinnert an Friedrich Nietzsche: «Wer ein Warum zu leben hat, erträgt fast jedes Wie.»

«Die letzte der menschlichen Freiheiten besteht in der Wahl der Einstellung zu den Dingen.»

Viktor Frankl

Oder er erzählt, wie der Wunsch, seine wissenschaftliche Tätigkeit fortzusetzen, ihn am Leben erhielt. Frankl trotzt dem Leiden im KZ – so unwahrscheinlich es klingt – einen Sinn ab, und widersteht so der vollständigen und tödlichen Reduktion auf die auf seinen Arm eintätowierte Nummer, auf ein blosses Objekt aus Knochen und Haut, der endgültigen Vernichtung. «Die letzte der menschlichen Freiheiten besteht in der Wahl der Einstellung zu den Dingen», schreibt Frankl.
Frankls Bericht beschreibt die Aufnahme im Lager mit der ersten Selektion zwischen Lager und Gaskammer, den Angriff auf alles Individuelle, die Desinfektion und dem langsamen Erkennen der Ausweglosigkeit angesichts der allgegenwärtigen Todesgefahr. Die Hoffnung auf eine mögliche Rettung geht bei den Insassen rasch verloren. Apathie macht sich breit. Der Tod von Mitgefangenen wird bald emotionslos hingenommen. Der Gedanke an Selbstmord als einzigen Ausweg aus der Grausamkeit, der Erniedrigung und der Gleichgültigkeit ist im Lager allgegenwärtig. Er beschreibt die Qualen des Nahrungsentzugs, der Schinderei und der Bestrafung – und die Überlebensstrategien im Lageralltag.

Die Befreiung

Frankl überlebt Bestrafungen und Selektionen, insbesondere ganz kurz vor dem Eintreffen der Amerikaner, mit viel Glück. Und dann ist es plötzlich vorbei, die Häftlinge sind frei und doch gefangen in dieser Erfahrung der absoluten Unmenschlichkeit. Frankl erlebt die Freiheit nach dem brutalen Freiheitsentzug tagelang als unwirklich und traumhaft. Erst Tage später, bei einem Spaziergang ausserhalb des Lagers, sinkt er in einer Blumenwiese auf die Knie. Frankl schreibt: «Du weisst in diesem Augenblick nicht viel von dir und nicht viel von der Welt, du hörst in dir nur einen Satz, und immer wieder denselben Satz: «Aus der Enge rief ich den Herrn, und er antwortete mir im freien Raum.» In diesem Moment sei er wieder Mensch geworden.
Vielleicht ist es unsere grösste Aufgabe, unserem Leben jeden Tag einen persönlichen Sinn, ein «Warum», abzugewinnen. Sei es als Jugendlicher, als Eltern, im Beruf und rundherum, im Alter und auch dann, wenn das Sterben unausweichlich geworden ist. Wir müssen Gott sei Dank nicht ins Konzentrationslager gehen, um das zu erkennen.

Auf das Leben antworten

«Es kommt nie und nimmer darauf an, was wir vom Leben zu erwarten haben, viel mehr lediglich darauf, was das Leben von uns erwartet», schreibt Frankl. Indem wir auf die Fragen des Lebens antworten, erarbeiten wir uns den Sinn, den wir zum Leben benötigen. Frankls Erfahrung ist deshalb eine Weihnachtsgeschichte für Erwachsene. Eine Geschichte, die davon erzählt, dass es sich lohnt, das eigene Leben in die Hand zu nehmen. Frankl hat daraus die Logotherapie gemacht, eine Methode der Existenzanalyse, die sich mehr für die Zukunft und den Sinn interessiert, als für die Vergangenheit.
Auf das individuelle, das persönliche «Warum» kommt es an. Es ist der einzigartige Sinn des Lebens, die Quelle für die individuelle Freiheit, die selbst unter widrigsten Umständen nicht vollständig ausgelöscht werden kann. Das ist eine gute Nachricht.
Ich wünsche Ihnen frohe Weihnachten!

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