Printausgabe
«Was ist passiert?» - Die Socken-Odyssee
Marina Lutz
Der Betreff der digitalen Nachricht klingt ehrlich besorgt. Es ist Sarah, die sich Gedanken um mich macht. Und das, obwohl ich sie nicht persönlich kenne. Sarah vertritt einen Sockenhersteller. Um nicht in den Ruch von Schleichwerbung zu kommen, nenne ich den Namen ihres Arbeitgebers nicht; es geht jedenfalls explizit um Socken in Schwarz.
Solche habe ich bei Sarah, beziehungsweise wohl eher ihrer Vor- oder Vorvorgängerin, einst bestellt. Das war im Jahr 2013. Deshalb macht sich Sarah nun Sorgen und fragt mich, was passiert sei, denn, wie sie schreibt: «Das ist doch schon eine ganze Weile her!» Zeit ist relativ, aber sie hat aus ihrer Perspektive sicher recht. Wer zehn Jahre lang nichts mehr bestellt hat, wird kaum «Kunde des Monats».
Rabattcode
Ich weiss: Unterm Strich will Sarah natürlich einfach erreichen, dass ich nun endlich wieder schwarze Socken bei ihr bestelle. Fürsorglich schickt sie sogar einen Rabattcode mit, der meinen Einkauf um 15 Prozent reduziert. Die Sache ist nur: Ich kaufe meine Socken längst woanders und habe keinen Bedarf. Aber dennoch werde ich den Rabattcode wohl nutzen und eine Schrankschublade für die überschüssigen neuen Socken freischaufeln.
Mit ihrem «Was ist passiert?» hat Sarah sehr geschickt mein Schuldbewusstsein aktiviert. Vielleicht mache ich mir zu viele Gedanken, aber seither lassen mich einige Fragen nicht mehr los. Glaubt sie nun allenfalls, ich laufe in zehn Jahre alten Socken mit Löchern herum? Denkt sie, dass ich sie nur alle paar Wochen wechsle? Zieht sie daraus gar Rückschlüsse aus meinem Umgang mit Unterhosen? Hält sie mich für eine «Saumore»?
Sarah ist Karl-Günther
Auf der rationalen Ebene ist mir klar: Sarah ist eine Verkäuferin, sie will verkaufen. Aber wenn sich eine Frau nach meinem Wohlergehen erkundigt, ist der Verstand ausgeschaltet. Auch wenn ich weiss, dass Sarah in Wahrheit vermutlich Karl-Günther heisst, 63 Jahre alt ist und knapp vor der Aussteuerung bei dem Socken-Shop noch einen Job ergattert hat, den sonst niemand wollte.
Aber es hilft einfach nichts. Vor meinem geistigen Auge ist Sarah 30, blond, blaue Augen und mit einem waffenscheinpflichtigen Körperbau ausgestattet. Ich sehe es vor mir, wie sie im Büro sitzt, aus dem Fenster starrt und sich Fragen zu meiner persönlichen Körperhygiene stellt. Wie sie in die Firmenkantine geht und sich mit Kollegen über meine Situation austauscht. In meinem Kopf sieht das in etwa so aus:
«Du, ich habe da einen Kunden, der … also, hast du schon gegessen? Sonst erzähle ich es lieber später. Jedenfalls, der hat vor zehn Jahren zum letzten Mal Socken bestellt. Vor! Zehn! Jahren!»
Und der ganze Tisch windet sich beim Gedanken daran und verzieht angeekelt das Gesicht. Um Ordnung in meine Gedanken zu bringen, suche ich meine Mailbox nach weiteren Nachrichten von Sarah oder meinetwegen Karl-Günther ab. Hat sie oder er vielleicht schon früher mal versucht, mich auf den rechten Weg zu bringen? In der Tat hat sich ihr Unternehmen bereits vier Wochen früher fürsorglich an mich gewandt, und das sogar in der Form von Samy, dem Chef der Firma. Auch er zeigte sich erstaunt über die lange Funkstille und schrieb mir: «Unglaublich, wie viel Zeit vergeht.» Und auch hier war ein Rabattcode mit dabei.
Drohbotschaften
Hat Samy, nachdem ich damals nicht reagiert hatte, Sarah ins Spiel gebracht, seine stärkste Waffe? War sie der letzte Versuch, mir klarzumachen, dass ich nicht in zehn Jahre alten Socken herumlaufen kann? Was wird der nächste Schritt sein? Ein zwei Meter grosser Weissrusse, der vor meinem Haus unauffällig eine raucht und mich streng fixiert, wenn ich zum Haus gehe? Drohbotschaften, die durch den Türschlitz geschoben werden? Der abgetrennte Kopf eines Seepferdchens auf meinem Kissen?
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Gar keine Frage. Ich muss dringends Socken bestellen. Am besten gleich hundert Stück. Ich halte diesem Druck nicht länger stand. Das Gerede über mich muss aufhören. Sarah hat endgültig gewonnen.
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